Das Schweigen der Aare. André Schmutz
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Читать онлайн книгу Das Schweigen der Aare - André Schmutz страница 8
»Habe ich die Bewilligung oder habe ich sie nicht?«, konterte Lisa gereizt.
»Wenn ich nicht mein Leben riskiert hätte, hättest du …«
»Ist ja gut, ich will mir gar nicht ausmalen, was hätte sein können, wenn du nicht den Termin für dein Mitarbeitergespräch vorhin mit Trachsel geklärt hättest. Danke, Thomas. Du warst echt ein Engel. Lass uns nun aber aufbrechen, wir können die Zeit in der Rechtsmedizin besser nützen, als uns hier zu streiten.«
Die übel gelaunte Dame an der Loge am Institut für Rechtsmedizin warf nur einen flüchtigen Blick auf das Gesuch. Dienststempel und Unterschrift von Kommissar Trachsel wurden gar nicht geprüft. Kurz ging Lisa durch den Kopf, dass sie sich den ganzen Zirkus hätte sparen können. Aber wer konnte schon wissen, dass mittlerweile auch in der Behördenstadt Bern einige Beamte eine ziemlich lasche Arbeitsmoral an den Tag legten.
Am Institut für Rechtsmedizin in Bern gab es acht Abteilungen. Die sterblichen Überreste von Siri befanden sich auf der Abteilung für forensische Medizin und Bildgebung. Mittlerweile war es bereits fast 16.30 Uhr. Lisa hoffte, dass die Mitarbeiter auf der forensischen Medizin eine bessere Arbeitsdisziplin zeigten als ihre Kollegin an der Loge. Die nüchternen Buchstaben »Forensische Medizin und Bildgebung« an der gelblich-braun verfärbten Glastür passten zu den hier stattfindenden Tätigkeiten. Obduktionen, histopathologische Untersuchungen, aber auch Abklärungen mit modernster Technik wie zum Beispiel die Dokumentation von Körper- und Objektbefunden mittels 3D optischem Oberflächenscanning oder Computertomographie. Zigerli lief ein Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre er einfach abgehauen. Lisa schien seine Gedanken zu lesen.
»Komm, Thomas, lass uns endlich reingehen.«
Lisa drückte die Klinke der Abteilungstür und betete, dass sie nicht bereits verschlossen war. Die Tür war noch offen. Lisa und Zigerli schlüpften in den armselig beleuchteten Gang und hofften, auf einen Mitarbeitenden der Abteilung zu treffen. Weit und breit niemand. Totenstille.
»Es scheint, dass wir Tür für Tür abklappern und darauf hoffen müssen, noch einen pflichtbewussten Angestellten beim Leichenwaschen anzutreffen«, stellte Lisa lapidar fest. Die Bemerkung raubte Zigerli das letzte bisschen Motivation. Gerade als Lisa bei der ersten Tür ansetzen wollte, ging zwei Räume weiter eine solche auf. Auf den Gang trat eine vollständig in Weiß gekleidete Frau im mittleren Alter. Bei genauerem Hinsehen erkannten Lisa und Zigerli, dass die Kleidung doch nicht ganz weiß war. Überall befanden sich rote Spritzer. Es war davon auszugehen, dass es sich um Blutspritzer handelte.
»Was suchen Sie hier?«, raunte die Frau. Sie sprach mit einem starken slawischen Akzent. Ihre Körpersprache und ihr Tonfall sagten indessen: »Raus hier.«
»Das wird nicht einfach, auch mit Trachsels Bewilligung«, konstatierte Lisa.
»Wir kommen von der Berner Kriminalpolizei, Dezernat Leib und Leben. Hier ist ein Schreiben von Oberkommissar Trachsel. Wir wollen uns nochmals die Leiche der heute eingelieferten jungen Frau von der Kirchenfeldbrücke ansehen.«
»Da gibt es nichts mehr zu sehen«, blaffte die Frau in Rot-Weiß. »Die Leiche war mehr ein Fleischhaufen als ein Personenkörper. Sie ist bereits eingesargt. Der Sarg ist verschlossen.«
»Jälva skit!1 Die Einsargung war erst für morgen früh geplant. Haben Sie denn keine Dienstvorschriften?«
»Bleiben Sie schön auf dem Boden. An der Leiche gibt es nichts mehr zu untersuchen. Die Todesursache steht eindeutig fest: Sturz aus großer Höhe. Ich würde sagen, mindestens 50 Meter ist die gute Frau runtergesaust.«
»Die gute Frau war meine Schwester. Danke, dass Sie so respektvoll von ihr sprechen.«
»Oh, das tut mir leid«, stammelte die sichtlich beschämte Rechtsmedizinerin.
»Machen Sie sich keinen Kopf. Sie können mir helfen, indem Sie den Sarg nochmals öffnen.«
»Das geht nicht. Den Sarg könnte höchstens mein Vorgesetzter, Professor Entomon, öffnen. Der ist aber vor knapp zwei Stunden in den Zug nach Zürich gestiegen. Er reist zu einem internationalen Cnidarien-Kongress.«
»Cnida… was?«, stammelte Lisa.
»Cnidarien sind Nesseltiere. Dazu gehören zum Beispiel verschiedene Quallenarten, Korallen und Seeanemonen. Ich kann Ihnen einzig den Obduktionsbericht aushändigen. Die Leiche wurde sorgfältig und professionell von uns untersucht. Alle Erkenntnisse stehen in dem Bericht. Und ich garantiere Ihnen, Sie würden nichts finden, was wir nicht bereits entdeckt haben.« Lisa konnte es nicht fassen. Nur wenige Meter von den sterblichen Überresten ihrer Schwester entfernt sollte sie diese nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es entsprach ganz und gar nicht ihrem Naturell, in solchen Situationen klein beizugeben. Fieberhaft überlegte sie, was sie noch tun könnte. Es fiel ihr nichts ein. Kein Gedanke, keine Idee. Von Zigerli kam auch nichts. Der Flopp des Tages.
»Also gut, dann geben Sie uns bitte den Obduktionsbericht«, hörte sich Lisa sagen. Dabei wäre sie am liebsten in den Kühlraum gerannt und hätte den Sarg ihrer Schwester einfach aufgebrochen.
Zwei Minuten später saßen Lisa und Zigerli an einem Tisch im Obduktionssaal Nummer zwei und brüteten über dem dreiseitigen Obduktionsbericht. Wie jeder Tod, welcher nicht auf ein natürliches Geschehen zurückzuführen war, wurde auch Siris Ableben als sogenannter außergewöhnlicher Tod eingestuft. Jeder der jährlich gegen 1000 außergewöhnlichen Todesfälle im Kanton Bern musste von Gesetzes wegen einer Leichenschau unterzogen werden. Dabei handelte es sich um eine ärztliche Besichtigung einer verstorbenen Person mit dem Ziel, die ärztliche Todesbescheinigung auszustellen. Die Leichenschau erforderte die persönliche Untersuchung des entkleideten Leichnams zwecks Feststellung von Todeszeichen und Verletzungen. Der Arzt musste ferner Gewissheit über die Identität der verstorbenen Person haben und die Todeszeit schätzen.
Lisa schauderte. Man musste eine dicke Haut besitzen, um einen solchen Job zu meistern.
Wie nicht anders zu erwarten, enthielt der Bericht nur nüchterne und zähe Rechtsmedizinerphrasen. Dazu das übliche Chirurgenchinesisch. Auch wenn sich im Dokument etwas Auffälliges befand, Lisa und Zigerli würden dies kaum entdecken.
»Multiple Frakturen des Corpus femoris rechts. Conquassatio von Schien- und Wadenbein beidseits«, las Lisa.
Die beiden Ermittler kämpften sich tapfer durch das Dokument.
»Blasen wir die Übung ab. Ich lade dich zu Roastbeef und Pommes ins Restaurant Schwarzwasserbrücke ein«, versuchte Zigerli, Lisa auf andere Gedanken zu bringen.
»Ich fasse es nicht. Da versucht man, die letzte Chance auf Aufklärung des Todes seiner Schwester zu nutzen, und du denkst an nichts anderes als ans Fressen«, fauchte die kurz vor einer Explosion stehende Lisa. Eigentlich war sie schon explodiert. Ihr tat die impulsive Antwort bereits in dem Moment leid, als sie diese Zigerli an den Kopf warf. Die Reaktion verfehlte ihre Wirkung nicht. Zigerli knickte ein wie ein umgemähter Grashalm.
»Ich habe es nicht so gemeint, Thomas, aber der Bericht ist die letzte Chance, vor der Bestattung von Siri noch etwas herauszufinden.«
Kaum hatte Lisa die Situation zwischen ihr und ihrem Kollegen beruhigt, hörten sie, wie sich die Tür zum Obduktionssaal öffnete und die Rechtsmedizinerin mit dem roten Dalmatinerkittel verkündete, dass das Institut in fünf Minuten schließe und sie den Obduktionsbericht wieder zurückhaben müsse.
»Geben