Das Schweigen der Aare. André Schmutz

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Das Schweigen der Aare - André Schmutz

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Mutter geerbt. Einzig die Haare waren nicht blond, sondern dunkelbraun, fast schwarz. Diese Erbschaft kam zweifellos aus Italien. Ihre große Schwäche – vermutlich auch ein Erbe ihres Vaters – war italienisches Essen. Etwa seit ihrem 20. Geburtstag machten sich die Genüsse aus Bella Italia bemerkbar. Lisa brachte ein paar Pfunde zu viel auf die Waage. Für viele ihrer Freunde machte sie dies nur umso sympathischer und attraktiver.

      An der Universität Freiburg hatte Lisa Kommunikationswissenschaften und Geschichte studiert und vor einem halben Jahr mit dem Master abgeschlossen. Sie arbeitete seit etwas mehr als vier Monaten als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Kriminalpolizei Bern. Lisa untersuchte zusammen mit einem kleinen Team von Spezialisten den Zusammenhang zwischen Betäubungsmittelmissbrauch und dem Begehen von Straftaten.

      Als Lisa gegen 8.45 Uhr auf der Wache am Waisenhausplatz eintraf, spürte sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Verdacht wurde bestätigt, als sie in ihr Büro trat. Thomas Zigerli, ihr Teamkollege, mit welchem sie auch ihr Büro teilte, wartete bereits ungeduldig auf sie.

      »Lisa, Lisa, du sollst dich sofort bei Trachsel melden. Er war vor ein paar Minuten hier und zeigte sich total aufgeregt.«

      »Ich muss zuerst rasch eine E-Mail schreiben. Ich werde im Anschluss zu ihm gehen.«

      »Er hat aber so ausgesehen, als ob es echt dringend wäre.«

      »So dringend, dass es nicht zehn Minuten warten könnte, wird es kaum sein.«

      »Das musst du wissen, ich habe dich jedenfalls infor…« Weiter kam Zigerli nicht.

      »Frau Manaresi, hat man Ihnen nicht ausgerichtet, sich unverzüglich bei mir zu melden?«, platzte Trachsel urplötzlich in die Unterhaltung der beiden. »Kommen Sie mit, ich habe eine ultradringende Information für Sie.«

      »Okay, okay, ich komme,« maulte Lisa. Widerwillig folgte sie Trachsel in sein Chefbüro.

      »Wollen Sie sich setzen? Leider habe ich eine schlimme Nachricht für Sie.«

      »Nein danke, ich stehe lieber.«

      »Wie Sie wollen. Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass wir heute Morgen Ihre Schwester Siri tot aufgefunden haben.« Trachsel berichtete in knappen Sätzen von der ursprünglichen Meldung des Spaziergängers, vom Leichenfund an der Aare und vom Besuch bei ihrer Mutter Elin.

      »Es deutet alles auf einen Suizid hin«, meinte Trachsel. »War Ihnen bekannt, dass Ihre Schwester psychische Probleme hatte? Gab es andere Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte?«

      »Was soll der Unsinn? Siri sprühte vor Lebensfreude. Sie war überall beliebt, gesund und stand mit beiden Füßen fest im Leben. Nie würde sich meine Schwester umbringen.«

      »Das glaube ich Ihnen gerne, trotzdem scheint aktuell ein Suizid aufgrund des Sturzes von der Kirchenfeldbrücke die wahrscheinlichste Todesursache. Selbstverständlich werden wir auch alle anderen Möglichkeiten prüfen«, fügte Trachsel hinzu. Seine Haltung verriet Lisa, dass er den Fall schon mehr oder weniger abgeschlossen hatte. Tatsächlich gingen Trachsel genau diese Gedanken durch den Kopf.

      »Es ist immer dasselbe bei diesen Suiziden. Ich bekomme stets dieselben Antworten zu hören«, entgegnete Trachsel. »Unsere Tochter, nein, nie würde sie sich das Leben nehmen. Sie ist glücklich und eine starke Persönlichkeit. Immer das Gleiche.« Zum wiederholten Mal erklärte Trachsel, was sich beim Erhalt einer schlechten Nachricht beim Empfänger abspielte. Der überhebliche, vor Selbstvertrauen strotzende Trachsel hatte keine Ahnung, dass sich dieser vermeintliche Suizid schon bald zu einem wahren Albtraum entwickeln würde.

      Kapitel 3

      Bern, Altenberg, 15. November 2019, 09:30

      Elin hatte gerade telefonisch ihren Mann Luca über den Besuch von Trachsel und ihren Fund im Zimmer von Siri informiert. Kurz bevor Trachsel bei Elin aufgetaucht war, hatte sie auf dem Pult im Zimmer von Siri einen Brief mit der Aufschrift »Für meine Lieben« gefunden. Ein Abschiedsbrief. Elin konnte nicht glauben, dass Siri ein Problem mit dieser Welt hatte. Nie hatte sie gehört, dass Siri die Welt grausam fand oder die Menschen egoistisch. Siri war von Grund auf positiv und sah immer das Gute in den Menschen und in allen Lebenssituationen. Der Inhalt des Briefes passte so ganz und gar nicht zu ihrer Tochter. Und dennoch – es war zweifelsfrei Siris Schrift.

      Sollte sie ihre Tochter dermaßen verkannt haben, ging es Elin durch den Kopf. Konnte es sein, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Siri von Problemen erdrückt wurde? Immer wieder liest man von solchen Fällen.

      Dennoch war Elin froh, Trachsel vorerst nichts über diesen Brief verraten zu haben. Ihr Ehemann Luca war da allerdings anderer Meinung.

      »Wir müssen transparent mit der Polizei kommunizieren und sie in ihren Ermittlungen so gut wie möglich unterstützen«, meinte Luca, als sie mit ihm telefoniert hatte.

      Er hatte recht. Er hatte fast immer recht. Aber vorhin konnte sie diesem arroganten Polizisten den Brief nicht aushändigen. Sie würde es nachholen.

      Es war kurz vor Mittag, als Elin im Büro von Chefkommissar Trachsel stand. Der konnte sein Glück kaum fassen. Mit dem Abschiedsbrief war der Fall so gut wie abgeschlossen. Zur Routine gehörte noch die endgültige Identifizierung der Leiche durch die Angehörigen und die finale Bestätigung der Echtheit des Briefes. Wenn alles gut lief, wäre dies bis morgen Abend über die Bühne. Kaum hatte Elin Manaresi die Wache wieder verlassen, tippte Trachsel seine neun Lieblingsziffern ins Mobiltelefon. Heute würde er sich in seinem Lieblingsrestaurant in der Berner Altstadt eine Emmentaler Kabiswurst mit Kartoffelsalat gönnen – zur Feier des Tages. Einen schwierigen Fall hatte er einmal mehr in kürzester Zeit souverän gelöst.

      Kapitel 4

      Bern, Schwellenmätteli, 15. November 2019, 17:30

      Lisa saß hinter der Glasfront im Restaurant Schwellenmätteli und wartete auf ihren Kollegen Thomas Zigerli. Vom eindrücklichen Rauschen der Aare, die sich weiter unten über die gewaltige Mattenschwelle wälzte, war nichts zu hören. Es schien, als wäre der Fluss verstummt.

      Thomas Zigerli war in Schwarzenburg, einer Kleinstadt im Kanton Bern, aufgewachsen. Seine Eltern führten dort seit Jahrzehnten ein kleines Kleidergeschäft. Zigerli war ursprünglich ausgebildeter Bankkaufmann. Mittlerweile arbeitete er seit einigen Jahren bei der Kriminalpolizei. Bereits kurz nach Lisas Stellenantritt wurde er zu ihrem besten Arbeitskollegen. Thomas und Lisa waren ziemliche Gegensätze. Gemeinsam war ihre Schwäche für gutes Essen. Lisa war zwar nicht die geborene Sportskanone – aber man traf sie einmal in der Woche beim Indoor-Klettern. Zigerli hingegen war der Inbegriff eines Antisportlers. »Sport ist Mord«, lautete seine Devise. Er war jemand, der alle Dinge hinterfragte. Entsprechend war er häufig am Grübeln und hatte manchmal Mühe, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren.

      Erst gegen 18 Uhr setzte sich der völlig durchnässte Zigerli an den Tisch von Lisa. Draußen hatte es im Verlauf des Nachmittags begonnen, wieder wie aus Kübeln zu schütten. Ganz so, als ob der liebe Gott die Spuren des Sturzes von Siri so rasch und so endgültig wie möglich aus der Welt schaffen wollte. In wenigen Sätzen schilderte Lisa Thomas, was sie bis anhin über den vermeintlichen Selbstmord ihrer Schwester wusste. Sie schloss mit der Bemerkung, dass sie nicht an einen Suizid glaubte.

      »Und du bist dir absolut sicher, dass Siri nicht doch ein schwerwiegendes, belastendes Problem hatte?«, entgegnete Thomas.

      »Ja, ich kenne Siri. Sie war nicht jemand, der

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