Das Schweigen der Aare. André Schmutz

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Das Schweigen der Aare - André Schmutz

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genossen sie es, sich in einem oft wilden Mix aus Schwedisch, Italienisch und Deutsch zu unterhalten. Als Coccolone hörte, dass Lisa im Anmarsch war, hellte sich sein trauriges Gesicht schlagartig auf. Es bestand eine besondere Beziehung zwischen Luca und seiner ältesten Tochter. Die beiden waren sich sehr ähnlich. Deshalb verstanden sie sich in vielen Situationen, ohne miteinander sprechen zu müssen. In einem Punkt unterschieden sie sich aber grundlegend: Lisa war von Natur aus dominant. Sie hielt gerne die Zügel in der Hand und war glücklich, wenn sie ihren Willen durchsetzen konnte. Diese Seite hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Luca hingegen war der sanfte, konfliktscheue und herzliche Padre – ein Coccolone eben.

      Nach einer herzlichen Begrüßung lenkte Lisa die Unterhaltung rasch in Richtung Abschiedsbrief. Der Originalbrief war tatsächlich noch bei ihren Eltern. Zwar hatte Trachsel darauf bestanden, das Original mitzunehmen und eine Kopie bei der Familie Manaresi zu belassen. Er hatte die Rechnung ohne Elin gemacht. Trachsel hatte kurz versucht, seine polizeiliche Autorität spielen zu lassen. Er war damit bei Elin ungefähr so sang- und klanglos gekentert wie ein Schlauchboot im Aarehochwasser.

      Ungeduldig wartete Lisa darauf, dass ihre Mutter ihr den Abschiedsbrief endlich aushändigte.

      »Danke, Mamma, Thomas und ich werden uns wahrscheinlich eine Weile mit dem Brief beschäftigen.« Mit diesen Worten verschwanden die beiden ins ehemalige Zimmer von Lisa, welches jetzt als Gästezimmer diente.

      Mindestens fünf Mal lasen Lisa und Zigerli den Brief. Es war ohne Zweifel die Handschrift von Siri. Der Brief war ein Original, keine Kopie. Er war mit Tinte geschrieben, fast so, als ob der Abschied stilvoll und nicht billig vonstattengehen sollte. Jedes Wort legten sie auf die Waagschale, sie hinterfragten jede Formulierung und suchten nach versteckten Hinweisen. Nichts. Deprimierend.

      Die Tatsache, dass der Brief echt zu sein schien, stützte natürlich die Hypothese des Suizids. Die Stimmung war am Boden.

      Und dennoch – irgendetwas in Siris Abschiedsbrief war nicht stimmig. Ganz tief in ihrem Unterbewusstsein erkannte Lisa eine Lampe. Sie leuchtete rot.

      Kapitel 8

      Bern, Waisenhausplatz, 17. November 2019, 12:30

      Die Nacht war niederschmetternd gewesen, ebenso der Morgen. Es gab einen Abschiedsbrief, der auf einen Selbstmord hindeutete, und es gab einen Leichenfundort, welcher diese Hypothese ebenfalls stützte.

      Hatte Trachsel doch die richtigen Schlüsse gezogen?, musste sich Lisa eingestehen.

      »Hallo, Lisa, wie stehen die Ermittlungen?«, platzte Zigerli in Lisas Mittagsmeditation. Ein kurzer Blick von ihr genügte, und Zigerli bereute seine unterschwellige Provokation.

      »War nicht so gemeint«, versuchte er, sich aus der Affäre zu ziehen.

      »Setz dich und lass uns noch einmal alles im Detail durchgehen«, entgegnete Lisa gereizt.

      Zusammen gingen Lisa und Zigerli nochmals chronologisch alle Geschehnisse und Indizien durch. Sie merkten gar nicht, dass die Mittagspause eigentlich längst vorüber war. Schließlich war es Lisa, welche eine entscheidende Eingebung hatte.

      »Ein Puzzleteil haben wir noch nicht im Detail geprüft: die Leiche.«

      Außer dem kurzen Augenblick bei der Identifizierung von Siris Leiche, hatte Lisa die sterblichen Überreste ihrer Schwester nicht zu Gesicht bekommen. Würde dort vielleicht ein entscheidender Hinweis zu finden sein? Morgen war die Abschiedsfeier geplant und übermorgen bereits die Kremation. Von ihren Eltern wusste Lisa, dass der Leichnam von Siri in der Rechtsmedizin direkt in den Sarg gelegt und dieser anschließend endgültig verschlossen wurde. Das alles hieß, die Leiche war längstens bis morgen früh noch auf der Rechtsmedizin. Auch wenn sie die Schwester von Siri war, würde es verdammt schwierig werden, in der Rechtsmedizin Zugang zur Leiche zu erhalten, es sei denn, die Kriminalpolizei hätte ein entsprechendes Gesuch ausgestellt.

      »Trachsel muss mir ein solches Gesuch zur Leichenschau und zur Einsicht in den Obduktionsbericht unterzeichnen«, murmelte Lisa mehr zu sich als zu ihrem Partner.

      »Das wird er dir nie im Leben unterschreiben«, entgegnete Zigerli.

      Er mochte recht haben. Zum einen hatte Trachsel den Fall bereits abgeschlossen, und zum anderen hatte er mit Lisa noch eine Rechnung offen. Der Oberkommissar hatte am letztjährigen Weihnachtsessen der Kriminalpolizei spätabends einen eindeutigen Flirtversuch bei Lisa gelandet. Flirtversuch war allerdings etwas untertrieben. Er hatte versucht, Lisa vor der Damentoilette zu küssen. Genau wie Zigerli musste der stark angetrunkene Trachsel auf äußerst schmerzhafte Weise mit der Wehrhaftigkeit der ältesten Manaresi-Tochter Bekanntschaft machen. Resultat seines stümperhaften Annäherungsversuchs waren ein blaues Auge und ein zerrissenes Hemd. Das Schlimmste aber waren Spott und Hohn der Arbeitskollegen. Noch Wochen nach der Feier hatte Trachsel das Gefühl, dass ein schadenfrohes Lächeln über die Gesichtszüge seiner Arbeitskollegen huschte, wenn er diesen im Büro begegnete. Obwohl seit dem Fiasko schon fast ein Jahr vergangen war, hatte sich bis anhin leider noch keine gute Gelegenheit ergeben, um an dieser hochnäsigen Praktikantin Rache zu nehmen. Zwar war Lisa als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt, Trachsel bezeichnete sie aber absichtlich und despektierlich als Praktikantin. Wegen der offenen Rechnung wartete Lisa täglich darauf, dass er ihr einen gehörigen Stock zwischen die Räder werfen würde.

      Einen Gefallen von ihm zu verlangen und auch zu erhalten, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Nahezu hoffnungslos. Es sei denn, man kannte die Schwächen seines Widersachers und drehte den Spieß um. Lisa hatte eine Idee, wie sie den Groll Trachsels möglicherweise in eine Gefälligkeit umwandeln konnte. In wenigen Worten schilderte sie Zigerli ihren Plan.

      »Bist du wahnsinnig? Das wird niemals klappen. Willst du dir das wirklich antun? Mit diesem Ekel?«, meldete Zigerli seine Zweifel an.

      »Thomas, du kennst mich inzwischen gut. Wenn ich ein Ziel habe, dann erreiche ich dieses auch«, posaunte Lisa selbstbewusster, als ihr zumute war.

      Es war inzwischen fast 15 Uhr– die Zeit drängte. Lisa und Zigerli verließen den kleinen Pausenraum und hofften, dass niemand etwas von ihrer überlangen Mittagspause mitbekommen hatte. Unbemerkt erreichte Lisa ihr kleines Büro. Vielleicht würde heute doch noch ihr Glückstag werden. Die Wache war wie ausgestorben, sodass Lisa unbemerkt ihre Sporttasche schnappen und sich zum Umkleideraum im ersten Untergeschoss aufmachen konnte. Lisa wusste, dass Trachsel trotz der happigen Abfuhr jederzeit und ohne zu zögern für ein Schäferstündchen mit ihr alles fallen und liegen lassen würde. Je sichtbarer sie ihre weiblichen Formen zur Schau stellte, desto einfacher würde es werden. Deshalb stürzte sich Lisa in ihre hautengen Lauftights und streifte sich ein pinkfarbenes Laufshirt über. Ab jetzt half nur noch gute Schauspielkunst und Beten.

      Ab in die Höhle des Löwen.

      Zuerst schien es, als ob ihre Glückssträhne weiter anhalten würde. Trachsel war in seinem Büro alleine und gerade damit beschäftigt, einen Schokoladeriegel in sechs gleichgroße Bissen zu zerschneiden. In der nächsten Stunde würde er sich alle zehn Minuten eine verdiente Stärkung gönnen. Er betrachtete gerade zufrieden sein Werk, als eine schlimm humpelnde Lisa in sein Büro platzte.

      »Herr Trachsel, es tut mir leid, dass ich einfach so bei Ihnen hereinschneie. Ich wollte heute ein bisschen früher Feierabend machen und noch bei Tageslicht eine Joggingrunde an der Aare drehen. Beim Hinausgehen bin ich unten an der Treppe gestolpert und habe mir den Knöchel verdreht. Es tut höllisch weh«, mimte Lisa mit schmerzverzerrtem Gesicht den sterbenden Schwan. Sie spielte ihre Rolle perfekt.

      »Dann wird es wohl nichts mit dem Rumrennen«, blaffte

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