Das Schweigen der Aare. André Schmutz
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Читать онлайн книгу Das Schweigen der Aare - André Schmutz страница 4
»Jeder Mensch hat Geheimnisse. Vielleicht wollte Siri der eigenen Familie einfach nicht zur Last fallen, gerade weil die Probleme sehr ernst waren. Sie wusste, dass so etwas die anderen Familienmitglieder stark belasten würde.«
»Du tönst, als ob du bei der Polizei arbeiten würdest. Es gibt einen vermeintlich einfachen Lösungsweg. Dieser wird von ein paar Indizien gestützt, und schon ist der Fall ohne großen Aufwand gelöst.« Lisa redete sich allmählich in Rage.
»Jetzt beruhige dich doch«, versuchte Zigerli, sie zu beschwichtigen. »Es deutet einfach alles auf einen Suizid hin. Ich verstehe ja auch, dass dies schwer zu akzeptieren ist. Und überhaupt – ja ich arbeite bei der Polizei – du übrigens auch …«
Es war diese letzte Bemerkung, welche Lisa zur Explosion brachte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte sie in weniger als zehn Sekunden das Lokal verlassen. Die Zeit hatte allerdings gereicht, um dem verdutzten Zigerli den kalt gewordenen Latte Macchiato über seine beginnende Glatze zu kippen.
Auch der kalte Novemberregen konnte Lisa vorerst nicht beruhigen. Ihr italienisches Temperament, welches sie von ihrem Vater geerbt hatte, brachte sie des Öfteren in Schwierigkeiten. In der Regel waren diese Emotionen aber positiv. Sie halfen Lisa, Geschehenes zu verarbeiten. Und sie machten Lisa auch zu einer Person, welche bei allen Leuten sehr beliebt war, da sie ihre Gefühle wie ein offenes Buch mit sich herumtrug.
»Ich werde den Fall alleine aufklären«, murmelte Lisa gedankenverloren zu sich selbst. Sie beschloss, trotz des immer stärker werdenden Regens und der Dunkelheit, sich nochmals den nahen Fundort der Leiche unter der Kirchenfeldbrücke anzuschauen. Mittlerweile waren bereits alle Absperrbänder entfernt. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor ein paar Stunden eine junge Frau zu Tode gekommen war. Wie jede Nacht verwandelte die majestätische Aare die sich spiegelnden Lichter der Stadt in glitzernde Sterne.
War Siri überhaupt durch den Sturz von der Brücke gestorben? War sie vielleicht schon vorher tot und erst danach von der Brücke geworfen worden?, ging es Lisa plötzlich durch den Kopf. Sie überlegte sich, dass es nicht schaden könnte, auf die Kirchenfeldbrücke zu steigen und sich die vermeintliche Absprungstelle genauer anzusehen. Gedacht, getan. 15 Minuten später inspizierte die bereits bis auf die Unterwäsche durchnässte Lisa den Abschnitt auf der Brücke, welcher für einen Absprung hätte infrage kommen können. Sie war erstaunt, wie breit das Fangnetz an jeder Stelle gespannt war. Es war unmöglich, direkt vom Brückengeländer über das Fangnetz in die Tiefe zu springen. Das heißt, man musste zuerst auf das Fangnetz springen, anschließend bis zu dessen Ende kraxeln und sich im Anschluss in die Tiefe stürzen. Nicht gerade die Selbstmordvariante »kurz und schmerzlos«. Da gab es in der Umgebung von Bern passendere Brücken.
Lisa leuchtete nochmals das Fangnetz mit ihrer kleinen Taschenlampe ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Hinweis, dass hier kürzlich jemand über das Netz gerobbt war. Nichts. Lisa beschloss, das Bad im Regen zu beenden und in ihre kleine warme Studiowohnung zurückzukehren. Grübelnd machte sie sich auf den Weg Richtung Innenstadt.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, dass ein dunkles Augenpaar interessiert ihre Nachforschungen beim Fangnetz beobachtet hatte. Die Gestalt, zu welcher das Augenpaar gehörte, folgte Lisa in ungefähr 50 Metern Abstand. Ahnungslos erreichte Lisa ihre Wohnung in der Länggasse. Der Unbekannte war ihr bis kurz vor die Wohnungstür gefolgt. Dann verschwand er zufrieden in der Dunkelheit.
Kapitel 5
Bern, Altenberg, 16. November 2019, 03:15
Luca Manaresi war gerade wieder aus dem Tiefschlaf hochgeschreckt. Seit ungefähr drei Jahren war es aus mit seinem ansonsten sprichwörtlichen Schlaf des Gerechten. Sein ganzes Leben hatte der Vater von Lisa nie Schlafprobleme gehabt; weder in seiner Kindheit in Bologna noch während seiner Ausbildung in Schweden und schon gar nicht im beschaulichen Bern. Seit über 30 Jahren arbeitete Luca als Lastwagenchauffeur bei einer in Bern beheimateten Import-Export-Firma. Früher war er mindestens einmal pro Woche in seiner Heimat, der Emilia Romagna. Es ging um die Einfuhr von Parmesankäse, Rohschinken, italienischen Wurstwaren, Balsamico-Essig und Wein. Fiel der Transport einmal aus, gab es postwendend Katzenjammer in der Berner Gastroszene. Mittlerweile war Luca in erster Linie innerhalb der Schweiz unterwegs. Er kümmerte sich um die Belieferung von Restaurants und Spezereiläden.
Zu Beginn kamen die Albträume einmal im Monat. Mittlerweile plagten ihn diese zwei- bis dreimal pro Woche. Das Perfide daran war, dass sich Luca nicht an den Inhalt der Träume erinnern konnte. Deshalb war es sehr schwierig, die Ursache für die bösen Träume zu finden. Niemand hatte ihm bisher helfen können. Sein Hausarzt hatte es nicht geschafft, die Neurologie am Inselspital auch nicht, ebenso wenig die bekannten Schlafforscher am Universitätsspital in Zürich. Man hatte zwar herausgefunden, dass bei Albträumen bestimmte Hirnareale besonders aktiv sind: die Inselrinde und der Gyrus cinguli. Luca waren Rinde und Gyrus einerlei. Er wollte lediglich, dass ihn die schlimmen Träume nicht jede zweite oder dritte Nacht quälten. Von den Ärzten stammte einzig die Hypothese, welche besagte, dass es womöglich ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit gab, welches Luca noch nicht richtig mit sich selbst verarbeitet hatte. Luca wollte davon nichts wissen.
»Es gab kein Trauma. Basta!«
Er beschloss aufzustehen und ein bisschen zu lesen. Eine halbe Stunde lesen half oft. Danach fand er meistens wieder seinen Schlaf. Deshalb schnappte er sich die Berner Zeitung vom Vortag, welche noch ungelesen auf dem Küchentisch lag.
Morgen wird darin wahrscheinlich über den Suizid meiner Tochter berichtet, ging es ihm durch den Kopf.
Der Gedanke verdarb Luca die Lust aufs Zeitunglesen. Dennoch blätterte er gelangweilt von Seite zu Seite. Ein Bild auf Seite fünf ließ ihn urplötzlich aus seinen trüben Gedanken hochschrecken. Mit einem Mal glaubte Luca sein Trauma zu kennen.
Kapitel 6
Bern, Waisenhausplatz, 16. November 2019, 15:05
Trachsel dröhnte immer noch der Schädel. Aber das war es die Kabiswurst von gestern wert. Dabei war nicht die Wurst, sondern die sieben Halbe Aarebier schuld an seinen Kopfschmerzen.
»Hallo Werner, ich habe hier bereits den Obduktionsbericht von der Kirchenfeldbrücken-Leiche. Schwere innere Verletzungen durch Sturz aus großer Höhe. Frakturen an oberen und unteren Extremitäten, offener Wadenbeinbruch rechts, Risse in Lunge, Leber, Milz, diverse Darmperforationen. Multiple Schädel-Hirn-Traumata. Tönt für mich nach der perfekten Beschreibung eines Kirchenfeldbrücken-Jumpers«, konstatierte Max Obermaier, seines Zeichens Oberwachtmeister bei der Kriminalpolizei Schrobenhausen in Bayern. Obermaier absolvierte aktuell seinen sechsmonatigen Austauschdienst bei der Kriminalpolizei Bern im Rahmen einer seit fünf Jahren bestehenden Zusammenarbeit.
»Hallo, Max, du kennst dich ja bereits bestens aus mit den Brücken hier in Bern«, meinte Trachsel.
»Das ist gar nicht so einfach. Es gibt dermaßen viele Brücken, und die haben auch noch komplizierte Namen. Lorrainebrücke – und das in Bern. Tönt nach Genf oder Lausanne. Dalmazibrücke – die würde ich eher in Kroatien suchen.«
»Weißt du, Max, wir sind eben international hier in Bern. Weltoffen. Keine Hinterwäldler wie ihr in Bayern.«
»Hör mir damit auf. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr lebt hier immer noch im Mittelalter. Bayern ist da eine ganz andere Liga. Einzig im Fußball, da seid ihr auch toll. Ihr ward schon ein paar Mal Schweizer Meister, und einen coolen Namen hat eure Mannschaft. Young Boys. Ich gebe zu, das tönt echt modern.«
»Wo du recht hast, hast du recht,