Das Schweigen der Aare. André Schmutz
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Читать онлайн книгу Das Schweigen der Aare - André Schmutz страница 5
»Gut, danke, dann schieb mir das Ding rüber. Ich werde das Papier heute Abend zusammen mit der Angehörigenidentifizierung unterschreiben.«
»Die habe ich auch schon dabei. Familie Manaresi war kurz nach Mittag in der Rechtsmedizin und hat ihre Tochter identifiziert. Neben den Eltern war auch noch eine Schwester der Selbstmörderin mit dabei. Eine echte Schönheit, bei der könnte ich mich vergucken.«
»Lieber Max, aus dem Alter solltest du raus sein. Die ist nichts für dich. Die steht bestimmt nicht auf 60-jährige Opas. Und ob sie deinen bayrischen biergestählten Schwabbelbauch sexy finden würde, ist auch nicht mit absoluter Sicherheit klar.«
»Mach dich nur über mich lustig. Die junge Frau hat jedenfalls fast zehn Minuten mit mir geplaudert und mich sogar gefragt, ob ich denn von der Suizidthese überzeugt sei. Da konnte ich all mein kriminalistisches Know-how gründlich vor ihr ausbreiten. Glaub mir, die war super beeindruckt von meinem Wissen. Hat einfach nur zugehört und gestaunt.«
»So, es reicht jetzt. Ich muss noch was tun. Also her mit den Schreiben, und dann wünsch ich dir was.«
Leicht verschnupft verließ Obermaier das Büro des Kommissars. Trachsel seinerseits war bereits damit beschäftigt, die Unterschriftenseiten des Obduktionsberichtes und der Leichenidentifizierung zu suchen. Den Inhalt der Dokumente würdigte er keines Blickes. Hätte er dies getan, wäre ihm womöglich im Obduktionsbericht etwas Wichtiges aufgefallen. Vielleicht auch nicht.
Kapitel 7
Bern, Länggassquartier, 16. November 2019, 19:30
Lisa saß bereits seit über einer Stunde an ihrem hübschen Küchentisch aus antikem Kirschholz. Der Tisch war einer der wenigen Luxusgegenstände, welche sich Lisa in ihrem Leben bis anhin gegönnt hatte. Sie hatte den Tisch von ihren Eltern zum Abschluss ihres Studiums geschenkt erhalten, nachdem sie diesen vorher wochenlang fast täglich im Schaufenster der Antikschreinerei Blaser in der Viktoriastraße angebetet hatte. Der Tisch hatte die Manaresis ein kleines Vermögen gekostet. Die Freude, welche Elin und Luca damit ihrer ältesten Tochter machen konnten, war es ihnen wert.
Ein sanftes Klingeln an ihrer Wohnungstür löste sie aus ihren trüben Gedanken.
Thomas, schoss es ihr durch den Kopf. Niemand sonst brachte es fertig, ihre wilde Türklingel zu zähmen und deren Töne nicht aggressiv klingen zu lassen. Die innere Ruhe, die Thomas besaß, schien sich auf die Klingel zu übertragen.
»Hallo, Thomas, tut mir leid wegen gestern Abend. Mir ging es total auf den Keks, dass alle und sogar du an einen Suizid meiner Schwester glauben.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Vielleicht hilft der Latte Macchiato meinem Haar zu neuem Wachstum. Bedarf wäre vorhanden. Ich habe von Anfang an nicht an einen Selbstmord von Siri geglaubt, aber das konnte ich dir gestern nicht mehr sagen, so wie du aus dem Lokal gerannt bist.«
»Danke, Thomas.«
Lisa mochte Thomas sehr. Sie waren echte dicke Freunde, die sich gegenseitig (fast) alles anvertrauten. Lisa war nie in Thomas verliebt gewesen, ganz im Gegensatz zu ihm. Er vergötterte Lisa seit dem Tag, als sie sich zum ersten Mal im Dezernat getroffen hatten. Am Anfang hatte Lisa seine ungelenken Komplimente, die kleinen Geschenke und die fast unterwürfige Hilfsbereitschaft genossen. Als Thomas sie auf dem gemeinsamen Nachhauseweg von einer Grillparty mit den Dezernatskollegen urplötzlich in einen dunklen Hauseingang drückte und seine feuchte Hand auf ihre rechte Brust drückte, schien die gemeinsame Freundschaft eigentlich für immer in Brüche gegangen zu sein. Dem plumpen Annäherungsversuch von Zigerli hatte Lisa mit einem überaus entschiedenen Tritt in Thomas’ Schritt ein jähes Ende gesetzt. Zigerli verbrachte im Anschluss zwei Tage im Spital. Ein gequetschter Hoden sowie zahlreiche Hämatome waren die unrühmliche Ausbeute seiner kopflosen Avancen. In den Wochen danach verlor Zigerli sieben Pfund an Gewicht, weil er vor lauter Kummer kaum mehr etwas aß. An sich wäre dies gar keine so schlechte Sache gewesen, wäre nicht die große Traurigkeit und die depressive Verstimmtheit hinzugekommen. Nach fünf Wochen hatte Lisa ein Einsehen. In einer über vier Stunden dauernden Aussprache verständigten sich die beiden darauf, wie ihre Freundschaft in Zukunft auszusehen hatte und wie nicht. In der Zwischenzeit hatte sich Zigerli damit abgefunden, dass Lisa für ihn unerreichbar war. Er genoss ihre gemeinsame Zeit und war glücklich, oft mit Lisa zusammen sein zu können.
»Gestern Abend habe ich nochmals die Kirchenfeldbrücke und die Fangnetze untersucht«, begann Lisa. »Ich konnte nirgends eine noch so kleine Spur einer Beanspruchung durch eine Person entdecken. Ich bezweifle immer mehr, dass Siri von der Brücke gestürzt ist. Weder gewollt noch durch Fremdeinwirkung.«
»Im Grunde gibt es drei mögliche Szenarien«, meldete sich nun Zigerli zu Wort. »Erstens: Siri hat sich selbst von der Brücke gestürzt. Wenn ja, bleibt immer noch die Frage, ob in suizidaler Absicht oder ob sie von jemandem dazu gezwungen wurde. Zweitens: Siri wurde bereits vorher umgebracht und anschließend von der Brücke geworfen.«
»Diese Möglichkeit scheint mir bei der Breite der Fangnetze reichlich unwahrscheinlich. Außer, jemand hätte sich die Mühe gemacht, selber mit einer Leiche auf die Fangnetze zu steigen und diese anschließend in die Tiefe zu befördern.«
»Da magst du recht haben«, pflichtete Zigerli Lisa bei. »Allerdings müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, schließlich sind wir nun die Ermittler. Drittens: Siri wurde anderswo von großer Höhe in die Tiefe gestürzt. Auch bei dieser Möglichkeit kann sie sich durch den Sturz die tödlichen Verletzungen zugezogen haben oder sie wurde bereits vorher umgebracht und im Anschluss in die Tiefe gestürzt, um exakt einen Sturz von einer Brücke vorzutäuschen.«
»Das heißt, wir haben im Grunde vier Optionen«, präzisierte Lisa.
»Ja, wenn du so willst, sind es vier Optionen.«
»Die Möglichkeit, dass Siri gar nicht von der Kirchenfeldbrücke gestürzt ist, sondern dass ihre Leiche unterhalb der Brücke deponiert wurde, um einen Sturz vorzutäuschen, ist mir heute Nachmittag auch eingefallen. Der Abschiedsbrief von Siri passt aber nicht richtig dazu. Dieser deutet doch auf einen Suizid hin.«
»Hast du den Brief mit eigenen Augen gelesen? Ist dir dabei nichts Verdächtiges aufgefallen? Theoretisch könnte der Brief auch von jemand anderem geschrieben worden sein«, mutmaßte Zigerli.
»Ich konnte den Brief noch nicht persönlich sehen. Du hast recht. Der Brief könnte uns weiterbringen. Er ist immer noch bei meinen Eltern. Kommst du mit?«
»Wenn es für deine Eltern okay ist.«
»Thomas, es ist für meine Eltern okay.«
Seit seinem Fiasko nach der Grillparty hatte Zigerli Hemmungen, die Eltern von Lisa zu besuchen. Bei der Begrüßung stieg ihm jedes Mal die Schamröte ins Gesicht, und er fühlte sich wie ein begossener Pudel. Lisa hatte ihm 1000 Mal versichert, dass die Affäre ein Geheimnis zwischen ihr und Thomas sei und selbst ihre Eltern nichts davon wüssten. Zigerli war sich dessen nicht so sicher. Die Begegnungen waren für ihn deshalb Teil der Buße für seinen Sündenfall.
Von Lisas Studio bis zur Wohnung ihrer Eltern waren es weniger als 20 Minuten zu Fuß. Bereits wenige Sekunden nach dem Klingeln öffnete eine sichtlich erfreute Elin die Tür.
»Hallå Mamma, dürfen wir kurz reinkommen?«
»Schön, euch beide zu sehen, kommt rein. Coccolone ist auch da.«
Mit Coccolone war Luca