Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen

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Träume von Freiheit - Ferner Horizont - Silke Böschen

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wusste, wo sie hinsehen sollte. Dieser Händedruck war mehr wert als ein teures Umschlagtuch und ein neuer Hut zu Weihnachten. Dieser Händedruck war ein Vertrauensbeweis. Und Adele wollte die gnädige Frau nicht enttäuschen.

2. Teil

      8. Dr. Zumpe

      Dresden, 05. Oktober 1881, am Morgen

      Das Schlafzimmer lag im Dunkeln. Die dicken Samtvorhänge ließen keine Sonnenstrahlen durchdringen. Zwei Tauben gurrten in der Linde vor dem Haus. Einer der Vögel schlug mit den Flügeln, sodass sich ein paar welke Blätter von den Zweigen lösten. Ein Blatt schwebte auf die Hutkrempe von Julius Zumpe. Ärgerlich wischte er es davon. Er war müde. Diese Abende bei Henri de Meli zehrten an ihm. Jedes Mal nach solch einer nicht enden wollenden Besprechung fühlte er sich matt und ausgelaugt. Dabei trank er selbst höchstens zwei, drei Gläser Bier und ließ sich so gut wie nie auf die weiteren alkoholischen Offerten des Gastgebers ein. Der Absinth widerte ihn an. De Meli trank das Zeug wie Kinder ein Glas Fassbrause. Es schüttelte ihn. Sein Hals kratzte.

      Wahrscheinlich waren es die Zigarren. Henri rauchte meistens mehrere an einem Abend. Er selbst vertrug sie nicht, paffte nur ein paar Züge, ließ sie ausgehen, behielt sie aber zwischen den Fingern. Es machte sich so gut, wenn er erklärte und ausholte, und dann so eine teure Zigarre dabei hielt, fand Julius Zumpe. Bei de Meli gab es immer teure Havannas. Überhaupt war alles sehr teuer in dem Herrenzimmer. Die Wohnung selbst war riesig. Ausgestattet mit den feinsten Tapeten, edlen Möbeln und dicken, leuchtenden Orientteppichen. Zumpe gefiel es bei den de Melis. Zu gern hätte er selbst so gelebt. Doch sein mageres Arztsalär reichte dafür vorn und hinten nicht. All die unbezahlten Rechnungen! Wenn die Patienten vor ihm saßen oder lagen – mit wässrigen Augen, blasser Haut und schwacher Stimme. Dann hatten sie Angst und waren bereit, alles zu tun, um schnell wieder auf die Beine zu kommen. Auch sein Honorar zu zahlen. Doch kaum ging es ihnen wieder besser, vergaßen sie Dr. Zumpe und die offenen Abrechnungen. Es war eine Last! Mit welcher Unverfrorenheit einige aus den feinsten Familien darauf hofften, dass auch er sie vergaß. Ein schönes Schlückchen Cognac oder eine Flasche französischer Rotwein sollten doch wohl genug sein, schienen manche zu denken. Julius Zumpe spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

      Er hatte noch nicht gefrühstückt. War gleich nach einer starken Tasse Kaffee aufgebrochen, um pünktlich hier zu sein – in der Räcknitzstraße. Bei seinen zahlungskräftigsten und zahlungswilligsten Patienten, der Familie de Meli. Er zog die Taschenuhr hervor. Noch vier Minuten, dann war es sieben Uhr. Er sah die Fassade hinauf. Ein Fenster in der zweiten Etage war erleuchtet. Vermutlich das Schlafzimmer von Henri. Gott sei Dank. Er war aus dem Bett gekommen. Bei den Mengen dieser grünen Grässlichkeit gestern Abend war Zumpe sich darüber nicht so sicher gewesen. Aber umso besser. Er schloss für einen Moment die Augen, hörte die Tauben. Ihr Gurren beruhigte ihn. Er dachte an Florence. Er mochte sie. Im Grunde ihres Herzens war sie eine liebenswürdige Person, überlegte er. Aber sie hatte den falschen Mann geheiratet. Dieses ewige Aufbegehren, dieses Reizen, ihre Unvernunft. Warum nur? Wäre sie besonnener und reifer, dann hätte sie längst die Vorzüge dieser Ehe erkannt und wäre ihrem Mann eine ebenbürtige Partnerin. Würde seine Trunksucht vielleicht zu beschwichtigen wissen, würde ihn stärken und ihm ein guter Kamerad sein. Aber so? Sie zündelte immer wieder mit neuen Feuerchen, die ihren Mann rasend machten. Der Arzt beobachtete mit Sorge, dass Henris Griff zu starken Alkoholika zugenommen hatte. Ebenso die Momente seiner Unbeherrschtheit.

      Er seufzte. Zwei Minuten vor sieben. Zum Glück war die alte Frau de Meli noch so rüstig. Sie liebte ihre Enkelkinder sehr, vor allem das kleine Mädchen. Sie würde sich um die beiden kümmern und ihren Sohn entlasten, wenn Florence fort war. Fort in Pirna Sonnenstein. Zumpe spürte wieder dieses Ziehen in der Magengegend. Zweimal war er dort gewesen in der ehemaligen Festung. Selbst für ihn als erfahrenen Mediziner war es eine ganz eigene Welt – eine Welt, in der er sich nicht länger als unbedingt nötig aufhalten wollte. Er bewunderte die Kollegen Psychiater, die Nervenärzte, die tagein, tagaus zwischen all diesen … Patienten tätig waren. Nein, diese geistigen Krankheiten, diese Verrücktheiten, dieser Wahnsinn – damit konnte Zumpe nicht umgehen. Sein Stethoskop und das alte, liebgewonnene Hörrohr aus Buchenholz waren dort nutzlos. Julius Zumpe streckte sich und setzte den Zylinder noch einmal fest auf den Kopf. Aber wenn es doch nicht anders ging? Wenn es doch hier zu Hause keine Heilung gab? Florence de Meli würde ein Aufenthalt dort guttun, beruhigte er sich. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Sieben Uhr. Er schritt zum Eingang und wartete, bis Henri de Meli persönlich zur Tür kam und ihn hineinließ. Die Türklingel hätte nur für Unruhe gesorgt. Und die gab es im Haushalt de Meli schon so genug.

      Florence hatte die halbe Nacht wach gelegen. Sie hatte viel geweint. Die Reisetasche war gepackt, die blaue Truhe auch, dazu hatte sie zwei Briefe an ihre Kinder geschrieben, die Adele im Fall der Fälle an sich nehmen und später Henry und Minnie vorlesen sollte. Die zwei mussten wissen, dass ihre Mutter sich nicht wortlos aus ihrem Leben gestohlen hatte. Florence weinte und weinte. Sie fühlte sich hilflos und gedemütigt. So ausgeliefert, wenn es stimmte, was Adele ihr aus dem Herrenzimmer zugetragen hatte. Dann wieder packte sie die Wut. So würde sie nicht mit sich umspringen lassen! Einfach wegsperren, und dann ist Ruhe. Das hatte sich Henri ja fein überlegt. Aber dahinter steckte ihre Schwiegermutter. Henri war viel zu schwach. Eines Tages würde sie es dieser alten, missgünstigen Hexe heimzahlen. Doch jetzt? Was jetzt? So ging es die halbe Nacht, als Florence tränenblind über ihren Habseligkeiten saß und Fluchtpläne schmiedete. Sie durfte keine Zeit verlieren. Noch morgen musste sie fort. Nicht länger warten, bis es vielleicht schon zu spät war. Wieder kamen ihr die Tränen, und mit nassem Gesicht schlief sie endlich ein.

      Die Klinke wurde heruntergedrückt. Geräuschlos öffnete sich die Tür. Dr. Zumpe lugte ins Zimmer. Zylinder und Mantel hatte er abgelegt. Seine Arzttasche stand gleich neben der Garderobe. Jetzt hielt er nur eine Spritze in der Hand. Sie war aufgezogen – randvoll mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Er sah sich um. Im Halbdunkel sah er die hastig gepackte Reisetasche vor dem Schrank, daneben die blaue Reisetruhe. Auf der gepolsterten Bank am Fußende des Bettes stapelten sich mehrere Kleider, Nähutensilien lagen verstreut auf dem Boden. Langsam ging er zum Bett. Florence schlief. Ihr dunkles Haar breitete sich auf dem Kopfkissen aus. Sie macht sich vor dem Schlafengehen keine Zöpfe, wunderte er sich. Schönes, lockiges Haar. Im Schlaf sah sie noch jünger aus, beinahe wie ein Mädchen. Sie schien zu träumen, ihr Gesichtsausdruck wirkte gequält. Sie stöhnte im Schlaf, dann wälzte sie sich zur Seite. Zumpe drehte sich um. Henri stand im Türrahmen; bereit, zur Hilfe zu eilen, wenn es nottat. Er sah schrecklich aus. Der riesige Vollbart lag wie ein struppiges Kissen auf seiner Brust. Die wenigen Haare auf seinem Kopf standen ab. Man sah ihm an, dass er nicht die Zeit gefunden hatte, sich zu waschen. Julius Zumpe empfand einen kurzen Moment des Widerwillens. Warum begab er sich und seine hoffnungsvolle Karriere in die Hände eines solchen Mannes? Die Antwort hatte er sich selbst in den vergangenen Tagen immer und immer wieder gegeben: Weil er zahlte, weil er sehr gut zahlte. Und weil Henri dafür sorgte, dass Dr. Carl Julius Zumpe zu einer medizinischen Instanz in der amerikanischen Gemeinde wurde.

      Er würde jetzt diese junge Frau, die so unschuldig in ihrem Bett lag, von ihrem Ehemann befreien. Wenigstens eine Zeit lang. So hatte Zumpe es sich zurechtgelegt, bis es für ihn selbst Sinn ergab. Und dann griff er blitzschnell nach dem rechten Arm von Florence, Henri sprang hinzu und hielt ihn fest, sodass die Nadel der Spritze die Vene problemlos fand. Florence machte ein Geräusch, es klang wie ein Seufzen. Dann riss sie die Augen auf, sah die Männer direkt vor sich, spürte den Schmerz in ihrem Unterarm. Sie versuchte, ihren Arm fortzureißen, wollte sich wegdrehen, wollte schreien. Ein klagender Katzenlaut. Ein Blutstropfen fiel hinab. Zumpe ließ den Arm los.

      »Frau de Meli, es ist besser so. Glauben Sie mir!«, sagte er und blickte ihr fest in die Augen.

      »Nein! Lassen Sie mich! Lassen Sie mich!« Florence schrie und versuchte, aus dem Bett zu kommen. Doch die Beine gehorchten ihr nicht. Auch die Zunge fühlte sich mit einem Mal schwer und taub an. Ihr ganzer Körper sackte langsam zusammen. Noch einmal sah sie den Arzt an, fiel zurück und lag dann beinahe so friedlich da,

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