Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs. Группа авторов

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Komplexität von Nationsbildungsprozessen mittels Literatur gelten. Die historischen Umbrüche und Zäsuren von 1918, 1945, 1963, 1991 öffneten jeweils neue Perspektiven im Zusammenspiel oder Konflikt monoethnisch-exklusivistischer, transethnisch-integralistischer und föderalistischer Konzepte nationalliterarischer Grenzziehung. Die dabei wirksamen Faktoren reichen von den politisch-ideologischen Rahmenbedingungen und kulturpolitischen Weichen bis zu dem „tiefgreifende[n] Bewusstseinswandel der Zeitgenossen“ aufgrund der „Erfahrungseinbrüche“ der beiden Weltkriege, mit denen, so der Historiker Reinhard Koselleck, „gleichsam Schwellen überschritten [werden], nach denen vieles, vielleicht alles, ganz anders aussieht“.1

      Vor dem Hintergrund des jüngsten, wiederum von einem Krieg begleiteten Umbruchs um 1990 verwundert es nicht, dass auch die neueren Perspektiven auf die südslawischen Literaturen im Zeichen von Diskursverschiebungen standen, die nicht mit neuen literaturgeschichtlichen Erkenntnissen, sondern mit dem Ende des jugoslawischen Staates und der Erfahrung des Scheiterns eines real existierenden Kultur- und Literaturbetriebs verbunden waren. Paradoxerweise waren diese Verschiebungen im jugoslawischen Raum nach 1991, etwa in der Literaturgeschichtsschreibung der Nachfolgestaaten, weniger spektakulär als in der journalistischen, z. T. auch slawistischen Auslandsperspektive. Dies war mit der unterschiedlichen Gewichtung innerjugoslawischer Entwicklungen nach 1945 verbunden und resultierte u.a. in der Annahme einer ‚Zerschlagung‘ der jugoslawischen Literatur und der ‚Erfindung‘ neuer Sprachen und Literaturen, wobei die föderalistische Dimension der jugoslawischen Kulturpolitik und die Logik eines komplexen Literaturbetriebs gerne übersehen bzw. marginalisiert wurden.2 Es ging um die Tendenz, beim Rückblick über die historische Schwelle den roten Faden der Entwicklung in der – letztlich gescheiterten – Integration zu sehen, während die tiefgreifenden Brüche und Diskontinuitäten, etwa in Gestalt inkommensurabler Integrationskonzepte, zugunsten der Kohärenz des Geschichtsnarrativs geglättet wurden.3

      Genau genommen hat es das Konzept einer jugoslawischen Nationalliteratur im Sinne einer die Nation fundierenden, im gemeinsamen Staat gepflegten und in der Nationalsprache verfassten Literatur nur in der Zwischenkriegszeit, und in reinster Form nur in der kurzen Spanne zwischen 1918 und der politischen Etablierung der Nachkriegsordnung um 1921 gegeben – in einer Sternstunde des jugoslawischen Nationalismus. Im Möglichkeitsraum der historischen Wende konnte die Konstituierung einer gemeinsamen Nationalliteratur und die Etablierung eines gemeinsamen Literaturbetriebs in programmatischer Reinform verhandelt werden, scheinbar noch unbelastet von den politischen Dilemmata, die den südslawischen Vereinigungsprozess fortan begleiten sollten.

      Als „radikalstes Experiment“4 in dieser Richtung kann das Periodikum „Književni Jug“5 („Der literarische Süden“) gelten, ein „experimentelles Kuriosum der kroatischen Zeitschriftenlandschaft“,6 das von Januar 1918 bis Dezember 1919 in Zagreb erschien und somit die Wendezeit rahmte und begleitete. Die programmatischen Texte in dieser Zeitschrift demonstrieren in hoch konzentrierter Form den ‚postimperialen‘ Bewusstseinswandel, die damit verbundene diskursive Logik einer jugoslawischen Nationsbildung und der entsprechenden Funktionalisierung von Sprache und Literatur. Im Folgenden soll, nach einer Einführung in maßgebliche Kontexte, das nationalliterarische Projekt der Zeitschrift unter den Stichworten Separation, Integration und Rückprojektion skizziert werden.

      1. Kontexte

      Ideengeschichtlich reichen die Anfänge einer ‚jugoslawischen Literatur‘ in die Zeit des ‚volkstümlichen Protonationalismus‘,1 als im Zuge der nationalromantischen Bewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Interesse an einer südslawischen Volkskultur und ihren identitätsstiftenden Potenzialen aufkam. Der Einigungsrahmen für die dialektal und regional zersplitterte Volkssprache und Literatur war freilich notorisch offen und blieb dies – allerdings zunehmend profiliert als Konkurrenz von exklusiv-nationalen und südslawisch-integralistischen Optionen – auch in der Epoche des politischen Nationalismus2 in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts.3 Mit der erfolgreichen Sprachintegration des seitdem u.a. als ‚serbokroatisch‘ bezeichneten Raumes und der Konkretisierung politischer Vereinigungsprogramme gewann auch das Konzept einer gemeinsamen Literatur der Serben und Kroaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend an philologischer Plausibilität (im Sinne der sprachzentrierten Vorstellungen von Nationalliteratur) und an (identitäts)politischer Pragmatik.

      Als in den innen- und außenpolitischen Krisen eine Rekonstruktion der politischen Ordnung immer wahrscheinlicher und gegen Ende des Großen Krieges unvermeidlich erschien, wurde die südslawische Vereinigung zur einzigen aussichtsreichen politischen Alternative. Doch während „die militärische, wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe“ von 1914–1918 schließlich „ein verändertes Bewusstsein in der breiteren […] Bevölkerung“ zeitigte und einen „grenzenlosen Enthusiasmus für den gemeinsamen Neuanfang“ bedingte,4 gingen die Vorstellungen von der politischen Gestaltung des Neuanfangs stark auseinander.5 In Konkurrenz zu einem ‚föderativen‘, einem ‚großserbischen‘ und einem ‚separatistischen‘ Modell zielte das dominante ‚integrative Modell‘ auf die „vollkommene wechselseitige Integration auf der Basis des Jugoslawismus und damit Überwindung der Einzelnationalismen“ ab.6

      Im Bereich kulturpolitischer Vorstellungen scheint die Dominanz projugoslawischer Positionen noch deutlicher gewesen zu sein. Diese Positionen waren allerdings auch selbst breit gefächert:7 Das Kontinuum reichte von der Unifizierung, über kulturelle Zusammenarbeit der ‚Volksstämme‘ bis zur bloßen gegenseitigen Toleranz.8 Dem o.g. ‚integrativen Modell‘ im Politischen entsprach die Befürwortung einer Unifizierung im kulturellen Bereich. Je nachdem, welcher Stellenwert dabei den einzelnen Teilkulturen gegeben wurde, können nach B. A. Wachtel bei den Befürwortern der Unifizierung die folgenden Modelle unterschieden werden: 1. ein romantisch-leitkulturelles, 2. ein multikulturelles und 3. ein transkulturelles Modell.9 Während das erste von einer (serbischen) Leitkultur ausging und das dritte eine Überwindung jeglicher Nationalkultur im Zeichen des kommunistischen Internationalismus anstrebte, zielte das dominante ‚multikulturelle‘ Modell auf eine Synthese der drei offiziellen jugoslawischen ‚Stammeskulturen‘ der Serben, Kroaten und Slowenen ab.

      Die kroatische Hauptstadt war schon in der Vorkriegszeit ein wichtigstes Zentrum projugoslawischer Agitation gewesen und bleibt dies im kulturellen Bereich auch nach der weitgehenden Abwendung der kroatischen politischen Elite vom jugoslawischen Projekt nach 1921. Unter den projugoslawischen Literaturzeitschriften in Zagreb10 hebt sich „Književni Jug“ durch die substanziell und zeitlich kompakte, d.h. radikale und zugleich kurzlebige, auf die Übergangszeit beschränkte Variante des ‚multikulturellen‘ Modells ab. Gegründet wurde die Zeitschrift von Vertretern der „nationalistische[n] Jugend jugoslawischer Orientierung“,11 die nach der am 2. Juli 1917 von Kaiser Karl verkündeten Amnestie für politische Verbrechen nach Zagreb gekommen waren. Herausgeber waren in chronologischer Folge: der kroatische und serbische Schriftsteller Niko Bartulović (1890–1943), der spätere serbische Historiker Vladimir Ćorović (1885–1941), der spätere jugoslawische Klassiker Ivo Andrić (1892–1975), der slowenische Schriftsteller Anton Novačan (1887–1951) und der spätere serbische Klassiker Miloš Crnjanski (1893–1977). Nicht wenige der rund 150 Namen, die auf den insgesamt 1836 Seiten der nominellen Halbmonatsschrift publiziert hatten, waren etablierte oder aber vielversprechende junge Autoren, die heute zu den Klassikern zählen: Neben den Herausgebern Andrić und Crnjanski gehören zu dieser Riege auch Ivo Vojnović, Isidora Sekulić, Tin Ujević und Miroslav Krleža.

      Der zukünftige Status der Autoren ist im vorliegenden Zusammenhang freilich nur als Indiz für die Verbreitung des projugoslawischen Standpunkts in der literarischen Elite um 1918 relevant. Relevanter ist der Vergangenheitsbezug der Autoren: Als habsburgische und serbische Untertanen waren sie Erben einer Staatenordnung, die einen südslawischen Zusammenschluss einerseits verhinderte, andererseits zunehmend attraktiv erscheinen ließ. Vor dem Hintergrund der alten Ordnung entfaltete sich nun der Effekt einer Koselleck‘schen ‚Erinnerungsschleuse‘:12 die Identifikation mit einer südslawischen Volksgemeinschaft, deren bedeutende Teile just aus dem imperialen ‚Völkerkerker‘

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