Professor Unrat. Heinrich Mann
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Professor Unrat - Heinrich Mann страница 3
Die Federn kritzelten; Professor Unrat lugte, mit nichts weiter beschäftigt, über die gebeugten Nacken hinweg. Es war ein guter Tag, an dem er einen »gefasst« hatte, besonders wenn es einer war, der ihm »seinen Namen« gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr »fassen« können. Das waren schlechte Jahre gewesen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je nachdem Unrat einige »fasste« oder ihnen »nichts beweisen« konnte.
Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehasst wusste, behandelte sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug »hineinlegen« und vom »Ziel der Klasse« zurückhalten konnte. Da er sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben. Er sah sie so nah, wie einer aus ihrer Mitte, der unversehens mit Machtbefugnissen ausgestattet und aufs Katheder erhoben wäre. Er redete und dachte in ihrer Sprache, gebrauchte ihr Rotwelsch, nannte die Garderobe ein »Kabuff«. Er hielt seine Ansprachen in dem Stil, den auch sie in solchen Fällen angewendet haben würden, nämlich in latinisierenden Perioden und durchwirkt mit »traun fürwahr«, »denn also« und ähnlichen Häufungen alberner kleiner Flickworte, Gewohnheiten seiner Homerstunde in Prima; denn die leichten Umständlichkeiten des Griechen mussten alle recht plump mitübersetzt werden. Da er selber steife Gliedmaßen bekommen hatte, verlangte er das gleiche von den andern Insassen der Anstalt. Das fortwährende Bedürfnis in jugendlichen Gliedern und in jugendlichen Gehirnen, in denen von Knaben, von jungen Hunden – ihr Bedürfnis zu jagen, Lärm zu machen, Püffe auszuteilen, weh zu tun, Streiche zu begehen, überflüssigen Mut und Kraft ohne Verwendung auf nichtsnutzige Weise loszuwerden: Unrat hatte es vergessen und nie begriffen. Wenn er strafte, tat er es nicht mit dem überlegenen Vorbehalt: »Ihr seid Rangen, wie's euch zukommt, aber Zucht muss sein«; sondern er strafte im Ernst und mit zusammengebissenen Zähnen. Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens. Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich, Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsgewalt, eine Knallerbse leitete Revolution ein, »versuchter Betrug« entehrte für alle Zukunft. Aus solchen Anlässen erbleichte Unrat. Schickte er einen ins »Kabuff«, war ihm dabei zumute, wie dem Selbstherrscher, der wieder einmal einen Haufen Umstürzler in die Strafkolonie versendet und, mit Angst und Triumph, zugleich seine vollste Macht und ein unheimliches Wühlen an ihrer Wurzel fühlt. Und den aus dem »Kabuff« Zurückgekehrten und allen andern, die ihn je angetastet hatten, vergaß Unrat es nie. Da er seit einem Vierteljahrhundert an der Anstalt wirkte, waren Stadt und Umgegend voll von seinen ehemaligen Schülern, von solchen, die er bei Nennung seines Namens »gefasst« oder denen er es »nicht hatte beweisen« können, und die alle ihn noch jetzt so nannten! Die Schule endete für ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die Häuser ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner. Überall saßen störrische, verworfene Burschen, die »ihr's« nicht »präpariert« hatten und den Lehrer befeindeten. Ein Neuer, noch ahnungslos, bei dem zu Haus ältere Verwandte über den Professor Unrat gelacht hatten wie über eine Jugenderinnerung von freundlicher Komik, und der nun mit dem Schub zu Ostern in Unrats Klasse gelangt war, konnte sich bei der ersten falschen Antwort anfauchen hören:
»Von Ihnen habe ich hier schon drei gehabt. Ich hasse Ihre ganze Familie!«
Unrat auf seinem erhabenen Posten über all den Köpfen genoss seine vermeintliche Sicherheit; und inzwischen war neues Unheil am Ausbrechen. Es kam von Lohmann.
Lohmann hatte seinen Aufsatz sehr kurz abgetan und dann zu einer Privatbeschäftigung gegriffen. Die wollte aber nicht vorwärtskommen, denn der Fall seines Freundes von Ertzum wurmte Lohmann. Er hatte sich gewissermaßen zum moralischen Schutzherrn des kräftigen jungen Edelmanns aufgeworfen und betrachtete es als ein Gebot der eigenen Ehre, die geistige Schwäche des Freundes, wo es ging, mit seinem so hoch entwickelten Hirn zu decken. Im Augenblick, wo von Ertzum eine unerhörte Dummheit sagen wollte, räusperte Lohmann sich lärmend und soufflierte ihm darauf das Richtige. Die unbegreiflichsten Antworten des andern machte er den Mitschülern achtbar durch die Behauptung, von Ertzum habe den Lehrer nur »wütend ärgern« wollen.
Lohmann war ein Mensch mit schwarzen Haaren, die über der Stirn sich bäumten und zu einer schwermütigen Strähne zusammenfielen. Er hatte die Blässe Luzifers und eine talentvolle Mimik. Er machte Heinesche Gedichte und liebte eine dreißigjährige Dame. Durch die Erwerbung einer literarischen Bildung in Anspruch genommen, konnte er der Schule nur wenig Aufmerksamkeit gewähren. Das Lehrerkollegium, dem es aufgefallen war, dass Lohmann immer erst im letzten Quartal zu arbeiten begann, hatte ihn trotz seiner zum Schluss genügenden Leistungen sitzen lassen, schon in zwei Klassen. So saß Lohmann, grade wie sein Freund, mit siebzehn Jahren noch unter lauter Vierzehn- und Fünfzehnjährigen. Und wenn von Ertzum dank seiner körperlichen Entwicklung zwanzig zu sein schien, so erhöhten sich Lohmanns Jahre dadurch, dass ihn der Geist berührt hatte.
Was musste nun einem Lohmann der hölzerne Hanswurst dort auf dem Katheder für einen Eindruck machen; dieser an einer fixen Idee leidende Tölpel. Wenn Unrat ihn aufrief, trennte er sich ohne Eile von seiner der Klasse fernstehenden Lektüre, und die breite, gelbblasse Stirn in befremdeten Querfalten, prüfte er aus verächtlich gesenkten Lidern die ärmliche Verbissenheit des Fragestellers, den Staub in des Schulmeisters Haut, die Schuppen auf seinem Rockkragen. Schließlich warf er einen Blick auf seine eigenen geschliffenen Fingernägel. Unrat hasste Lohmann beinahe mehr als die andern, wegen seiner unnahbaren Widersetzlichkeit, und fast auch deshalb, weil Lohmann ihm nicht seinen Namen gab; denn er fühlte dunkel, das sei noch schlimmer gemeint. Lohmann vermochte den Hass des armen Alten beim besten Willen nicht anders zu erwidern als mit matter Geringschätzung. Ein wenig von Ekel beträufeltes Mitleid kam auch hinzu. Aber durch die Kränkung von Ertzums sah er sich persönlich herausgefordert. Er empfand, als der einzige unter dreißig, Unrats öffentliche Lebensbeschreibung des von Ertzumschen Onkels als eine niedrige Handlung. Zuviel durfte man dem Schlucker dort oben nicht erlauben. Lohmann entschloss sich also. Er stand auf, stützte die Hände auf den Tischrand, sah dem Professor neugierig beobachtend in die Augen, als habe er einen merkwürdigen Versuch vor, und deklamierte vornehm gelassen:
»Ich kann hier nicht mehr arbeiten, Herr Professor. Es riecht auffallend nach Unrat.«
Unrat machte einen Sprung im Sessel, spreizte beschwörend eine Hand und klappte stumm mit den Kiefern. Hierauf war er nicht vorbereitet gewesen – nachdem er noch soeben einem Verworfenen die Relegation in Aussicht gestellt hatte. Sollte er nun auch diesen Lohmann »fassen«? Nichts wäre ihm erwünschter gekommen. Aber – konnte er es ihm »beweisen«?.. In diesem atemlosen Augenblick reckte der kleine Kieselack seine blauen Finger mit den zerbissenen Nägeln in die Höhe, knallte mit ihnen und keifte gequetscht:
»Lohmann lässt einen nicht ruhig nachdenken, er sagt immer, hier riecht es nach Unrat.«
Es entstand Kichern, und einige scharrten. Da ward Unrat, der schon den Wind des Aufruhrs im Gesicht spürte, von Panik ergriffen. Er fuhr vom Stuhl auf, machte über das Pult hinweg eckige Stöße nach allen Seiten, wie gegen zahllose Anstürmende, und rief:
»Ins Kabuff! Alle ins Kabuff!«