Professor Unrat. Heinrich Mann

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Professor Unrat - Heinrich Mann

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Er stürzte sich, ehe jener es vermuten konnte, auf Lohmann, packte ihn am Arm, zerrte und schrie erstickt:

      »Fort mit Ihnen, Sie sind nicht länger würdig, der menschlichen Gesellschaft teilhaftig zu sein!«

      Lohmann folgte, gelangweilt und peinlich berührt. Zum Schluss gab Unrat ihm einen Ruck und versuchte ihn gegen die Tür des Garderobengelasses zu schleudern; doch dies misslang. Lohmann staubte sich ab an der Stelle, wo Unrat ihn angefasst hatte, und verfügte sich besonnenen Schrittes in das »Kabuff«. Darauf sah der Lehrer sich nach Kieselack um. Der aber hatte sich hinter seinem Rücken an ihm vorbeigewunden und drückte sich schon, mit einer Fratze, in das Arrestlokal. Der Primus musste den Professor darüber aufklären, wo Kieselack sei. Unvermittelt verlangte nun Unrat, die Klasse solle durch den Zwischenfall keinen Augenblick von der Jungfrau abgelenkt worden sein.

      »Warum schreiben Sie nicht? Fünfzehn Minuten noch! Und die unfertigen Arbeiten werde ich – immer mal wieder – nicht zensieren!«

      Infolge dieser Drohung fiel den meisten überhaupt nichts mehr ein, und es entstanden angstvolle Mienen. Unrat war zu erregt, um eine rechte Freude daran zu haben. In ihm war der Drang, jeden je möglichen Widerstand zu brechen, alle bevorstehenden Attentate zu vereiteln, es ringsumher noch stummer zu machen, Kirchhofsruhe herzustellen. Die drei Rebellen waren beseitigt, aber ihre Hefte, aufgeschlagen auf den Bänken, schienen ihm noch immer den Geist der Empörung auszuströmen. Er raffte sie zusammen und begab sich mit ihnen auf das Katheder.

      Von Ertzums und Kieselacks Arbeiten waren mühselige und ungelenke Satzgefüge, die nur zu sehr von gutem Willen zeugten. Bei Lohmann war es sogleich unbegreiflich, dass er keine »Disposition« gemacht hatte, keine Einteilung seiner Abhandlung in A, B, C, a, b, c und 1, 2, 3. Auch hatte er nur eine einzige Seite fertig gebracht, die Unrat mit schnell wachsender Entrüstung zur Kenntnis nahm. Es stand dort:

      »Die dritte Bitte des Dauphins (Jungfrau von Orleans I 10).

      Die junge Johanna führt sich, geschickter als ihre Jahre und ihre bäurische Vergangenheit es vermuten ließen, durch ein Taschenspielerkunststück bei Hofe ein. Sie gibt dem Dauphin einen Inhaltsauszug aus den drei Bitten, die er in der letzten Nacht an den Himmel gerichtet hat, und macht durch ihre Fertigkeit im Gedankenlesen natürlich starken Eindruck auf die unwissenden großen Herren. Ich sagte: aus den drei Bitten; aber tatsächlich wiederholt sie nur zwei: die dritte erlässt ihr der überzeugte Dauphin. Zu ihrem Glück: denn sie würde die dritte schwerlich noch gewusst haben. Sie hat ihm bei den beiden ersten ja schon alles gesagt, worum er seinen Gott gebeten haben kann, nämlich: wenn eine noch ungebüßte Schuld seiner Väter vorhanden sei, ihn selbst als Opfer anzunehmen statt seines Volkes; und wenn er schon Land und Krone verlieren solle, ihm wenigstens Zufriedenheit, seinen Freund und seine Geliebte zu lassen. Auf das Wichtigste, auf die Herrschaft, hat er somit schon verzichtet. Was soll er also noch erbeten haben? Suchen wir nicht lange: er weiß es selbst nicht. Johanna weiß es auch nicht. Schiller weiß es auch nicht. Der Dichter hat von dem, was er wusste, nichts zurückbehalten und dennoch »und so weiter« gesagt. Das ist das ganze Geheimnis, und für den mit der wenig bedenklichen Natur des Künstlers einigermaßen Vertrauten gibt es dabei nichts zu verwundern.«

      Punktum. Das war alles – und Unrat, den ein Zittern beschlich, kam jäh zu der Erkenntnis: diesen Schüler zu beseitigen, vor diesem Ansteckungsstoff die menschliche Gesellschaft zu behüten, das dränge weit mehr als die Entfernung des einfältigen von Ertzum. Zugleich warf er einen Blick auf das folgende Blatt, wo noch einiges gekritzelt stand, und das übrigens halb herausgerissen im Heft hing. Aber plötzlich, in dem Augenblick als er verstand, überflog etwas wie eine rosa Wolke die gewinkelten Wangen des Lehrers. Er schloss das Heft, rasch und verstohlen, als wolle er nichts gesehen haben; öffnete es nochmals, warf es gleich wieder unter die beiden andern, atmete im Kampf. Er empfand zwingend: da wurde es Zeit, der musste »gefasst« werden! Ein Mensch, mit dem es dahin gekommen war, dass er diese – gewiss denn freilich – Künstlerin Rosa – Rosa – Er griff zum dritten Mal nach Lohmanns Heft. Da klingelte es schon.

      »Abliefern!« stieß Unrat aus, in der heftigen Besorgnis, ein Schüler, der bisher nicht fertig geworden war, könne vielleicht im letzten Augenblick noch zu einer befriedigenden Note gelangen. Der Primus sammelte die Aufsätze ein; einige belagerten die Tür nach der Garderobe.

      »Weg dort! Warten!« rief Unrat, in neuer Angst. Am liebsten hätte er abgeschlossen, die drei Elenden unter Verschluss behalten, solange, bis er ihren Untergang gesichert haben würde. Das ging nicht so rasch, hier musste logisch nachgedacht werden. Der Fall Lohmann blendete ihn vorläufig noch durch ein Übermaß von Verworfenheit.

      Mehrere von den Kleinsten pflanzten sich in beleidigtem Rechtsgefühl vor das Katheder hin.

      »Unsere Sachen, Herr Professor!«

      Unrat musste das »Kabuff« freigeben. Aus dem Gedränge wickelten sich nacheinander die drei Verbannten, schon in ihren Mänteln. Lohmann stellte gleich von der Schwelle her fest, dass sein Heft in den Händen Unrats sei, und bedauerte gelangweilt den Übereifer des alten Tölpels. Jetzt musste sich möglichenfalls sein Erzeuger in Bewegung setzen und mit dem Direktor reden!

      Von Ertzum zog nur die rotblonden Brauen ein Stück höher in seinem Gesicht, das sein Freund Lohmann den »besoffenen Mond« nannte. Kieselack seinerseits hatte sich im »Kabuff« auf eine Verteidigung vorbereitet.

      »Herr Professor, es ist nicht wahr, ich hab' nicht gesagt, dass es nach Unrat riecht. Ich hab' nur gesagt, er sagt immer –«

      »Schweigen Sie!« herrschte Unrat, bebend, ihn an. Er schob den Hals vor und zurück, hatte sich gefasst und setzte gedämpft hinzu:

      »Ihr Schicksal hängt jetzt nunmehr immerhin ganz dicht über Ihren Köpfen. Gehen Sie!«

      Darauf gingen die Drei zum Essen, jeder mit seinem Schicksal über sich.

      II

      Auch Unrat aß, und dann legte er sich auf das Sofa. Aber wie es alle Tage ging, warf im rechten Moment, als er einnicken wollte, nebenan seine Haushälterin ein Geschirr hin. Unrat fuhr auf und griff sofort wieder nach Lohmanns Aufsatzheft, während er sich rosa färbte, als läse er das die Scham Verletzende, das darin stand, zum ersten Mal. Dabei ließ es sich schon gar nicht mehr schließen, so sehr auseinandergebogen war es an der Stelle, wo die »Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein Rosa Fröhlich« sich befand. Der Überschrift folgten einige unleserlich gemachte Zeilen, dann ein freier Raum und dann:

      »Du bist verderbt bis in die Knochen,

      Doch bist du 'ne große Künstlerin;

      Und kommst du erst mal in die Wochen –«

      Den Reim hatte der Sekundaner noch zu finden. Aber der Konditionale im dritten Vers sagte viel. Er ließ vermuten, Lohmann sei an ihm persönlich beteiligt. Dies ausdrücklich zu bestätigen, war vielleicht die Aufgabe des vierten Verses gewesen. Unrat machte zur Erratung dieses fehlenden vierten Verses grade solche verzweifelten Anstrengungen, wie seine Klasse gemacht hatte zur Auffindung der dritten Bitte des Dauphins. Der Schüler Lohmann schien sich, durch diesen vierten Vers, über Unrat lustig zu machen, und Unrat rang mit dem Schüler Lohmann, in wachsender Leidenschaft, voll des dringenden Bedürfnisses, ihm zu zeigen, er selbst sei zuletzt doch der Stärkere. Er wollte ihn schon hineinlegen!

      Die noch unförmlichen Entwürfe künftiger Handlungen bewegten sich in Unrat. Sie ließen ihn nicht mehr stillhalten, er musste seinen alten Radmantel umhängen und ausgehen. Es regnete dünn und kalt. Er schlich, die Hände auf dem Rücken, die Stirn gesenkt, und ein giftiges Lächeln in den

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