Abara Da Kabar. Emil Bobi
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Doch das half mir wenig, ich meine, diese Amnestie traf mich nicht. Die Menschen waren nicht schuld, ich aber schon. Die Menschen wurden enthaftet, ich aber wurde verbannt. Der Rest der Menschheit wurde entlastet, ich aber enteignet. Ich nahm zur Kenntnis: Keine einzige der Botschaften, die ich verschickt hatte, war je angekommen. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas gesagt, wie ich dachte, es gesagt zu haben. Ich hatte die Sprache für eine Gefährtin gehalten, für eine befreundete Riesin, die Zauberkräfte besaß und mit der man Himmel und Hölle bereisen konnte. Doch diese geheiligte, verdammte Wortsprache konnte einfach nicht, was ich ihr zugeschrieben hatte.
Diese Erkenntnis verdankte ich meinem Talent zum Hinschauen und meinem Hang zum Verwerflichen, ohne den ich heute noch an der Kluft stehen, in den Wind rufen und mir einbilden würde, drüben auf der anderen Seite verstünde jemand etwas.
Ich bin in diese Erkenntnis bei heiterem Himmel hineingestolpert. Das ging so: Ich saß also in dieser Redaktionssitzung und verdrehte die Tatsachen, damit sie mir passten. Ich verbog sie ein bisschen, damit man einen schöneren Titel für meine Geschichte machen konnte, die sich im Vorfeld der Nationalratswahl um Wahlkampf-Sprache drehen sollte, genauer gesagt um die erstaunlich mangelhaften Sprachkompetenzen mancher Spitzenkandidaten.
Der Wahlkampf war in die heiße Phase gekommen und besonders einer der Spitzenkandidaten hatte begonnen, Nerven zu zeigen. Er begann öffentlich um sich zu schlagen wie ein kreischendes Kind, das wegen angeblicher oder tatsächlicher Gemeinheiten seine Arme hin und her um den Oberkörper schleudert und dabei egozentrische Grimassen schneidet. Dabei handelte es sich um den amtierenden Bundeskanzler der Republik Österreich, der während seiner gesamten Amtszeit Erklärungsbedarf angehäuft hatte. Nun war auch der Wahlkampf desaströs verlaufen, es hatte überall zu brennen begonnen und alle, besonders seine eigenen Parteifreunde, schauten regungslos zu wie Ehrengäste bei einer Einäscherung. Selbst jene Billigblätter und billigen Gratisblätter waren auf Distanz gegangen, aus denen er in großer Regelmäßigkeit als Macher herausgestrahlt hatte, sowohl aus dem redaktionellen Teil wie aus den ganzseitigen Partei-Inseraten. In seiner Partei wollte niemand mehr verstehen, warum er es wieder geschafft hatte, aufgestellt zu werden, wo er doch längst drauf und dran gewesen war, das Gleichgewicht zu verlieren, was in der Politik bedeutete, dass das Gleichgewicht schon verloren war. In dieser Situation ließ der Gerade-Noch-Regierungschef mit einer erstaunlichen Behauptung aufhorchen: »Dieses Land braucht einen Kanzler, wo die Partei hinter ihm steht.«
Mit diesem Satz des Regierungschefs begann ich meine Ausführungen in der Sitzung. Gelächter brach los. Ein Fotograf äffte den Kanzler nach: »Also braucht man nirgendwo in diesem Land einen Kanzler, denn die Partei steht nirgends hinter ihm.« Heiterkeit. Überlegenes Schmunzeln.
Ich fuhr fort. Dahinter stecke ein großes Zeit-Thema. Wir hätten es mit einer schleichenden Sprachverarmung zu tun, die sich durch alle Schichten ziehe und viele Ursachen habe. Sätze wie »du verstehst mich nicht« oder »das habe ich nicht gesagt« zählten zu den statistisch am öftesten verwendeten Sätzen überhaupt. Für die Existenz einer Sprachkrise gebe es nicht nur zahlreiche frei beobachtbare Indizien, sondern auch viele eindeutige Beweise: Unlängst habe etwa eine Studie gezeigt, dass Kinder ihre motorischen Fähigkeiten zunehmend einbüßten, ein Schreibgerät so zu führen, dass lesbare Buchstaben zurückblieben. Sie würden die körperlichen Voraussetzungen zur Aneignung von Schrift verlieren. Die Menschen würden immer analphabetischer. Wir hätten eine neue Sprachkrise. Ein Babel 4.0.
Die Diskussion dauerte mehr als eine halbe Stunde. Sarkastische Wortspiele wurden erfunden, Beispiele sprachlicher Verwerfungen Prominenter zitiert. Weitere Aspekte der Sprachverarmung wurden erwähnt, wie die Chat-Sprache, die nur noch Satzfetzen und Abkürzungen kannte und auf das Denken selbst zurückwirke, denn die Leute begannen ihre Gedanken ihren Ausdrucksmöglichkeiten anzupassen. Es entstünde etwas wie eine Chat-Denke. Die Betroffenen erinnerten dabei an körperlich Lädierte, die schmerzhaften Stellungen auswichen und erst dadurch behindert wirkten.
Der stellvertretende Chefredakteur, der die Sitzung leitete, hatte nur schweigend zugehört und sagte jetzt: »Das ist eigentlich eine eigene Cover-Geschichte für nach der Wahl.« Ich nickte.
»Wie lautet der Titel?«, fragte er, »was steht im Vorspann?«
Ich blickte in die Luft: »Keine Ahnung. Vielleicht: ›Der Sprachfehler‹. Oder ›Sprache sprachlos‹. Oder ›Was kann Sprache?‹ Oder ›Das Babel-Gebrabbel‹.« Und nach einer Pause: »›Das Muss-Verständnis‹?«
»Das versteht man nicht«, sagte der Art-Direktor und kaute an seinem Bleistift.
Der rauflustige Fotograf schlug vor: »›Die Sprecher-Verbrecher‹!« Ein anderer: »›Die Sprach-Blase‹? Oder ›Die Entsprachung‹? Oder vielleicht straight: ›Das Ende der Sprache‹?«
Nein. Das war alles nichts. Eine Cover-Geschichte musste eine echte These haben. Dass Sprache nicht beherrscht und dennoch missbraucht wurde, war einfach nichts Neues. Dass sie Missverständnisse erzeugte und Verwirrung stiftete, dass Politiker sich wanden und nichts sagen wollten und dabei stotterten, war altbekannt und das wollte niemand lesen. Man müsse, sagte ich, viel weiter gehen und nach vorne gerichtet zuspitzen, vielleicht so: »Sprache funktioniert nicht.«
Das klinge schon eher nach etwas. Das sei eine klare Mitteilung. Etwas völlig Neues. So etwas wolle man lesen. Das habe man noch nie gehört. »Die Sprache funktioniert nicht. Sie ist defekt.« Zu sagen, die Menschen würden lügen, sei langweilig. Aber neu sei: Nicht die Menschen sind schuld, sondern die Sprache. Das betreffe jeden einzelnen und entlaste ihn von der großen Beschuldigung. Toll. Dagegen wäre »Das Ende der Sprache« ein platter Slogan, den niemand ernst nehme.
Der stellvertretende Chefredakteur biss sich auf die Unterlippe. »Kann man das?«, fragte er, »kann man sagen, Sprache funktioniert nicht?«
»Sicher«, sagte ich. »Sie funktioniert jedenfalls sicher nicht so, wie man sich das als Laie vorstellt.«
»Wie stellt man sich das als Laie vor?«
»Na, dass der eine etwas ausspricht, dieser Inhalt sodann durch die Luft fliegt und zugestellt wird und der Empfänger diesen übermittelten Inhalt zur Verfügung hat.«
»Nein?«
»Nein, absolut nicht.«
Der stellvertretende Chefredakteur wollte die Diskussion abgeschlossen haben, ohne sich in jedes Detail zu vertiefen und sich dem Rest des Programmes zuwenden. »Also dann vielleicht doch«, sagte er, hielt kurz inne, und fuhr fort: »Titel: Der Sprachfehler. Untertitel: Das Kommunikationssystem, das den Menschen zum Menschen macht, funktioniert nicht. Geht das?«
Ich nickte.
Damit war eine große Titelgeschichte über die neue Sprachkrise beschlossen und meine kleine Wahlkampf-Story über analphabetische Spitzenkandidaten entfiel. Mein Magen fühlte sich lau an. Von der anderen Straßenseite blitzte reflektiertes Sonnenlicht vom Fenster des Führerhäuschens eines Baukranes, der sich gedreht hatte. Ich starrte auf die eisengraue Kunststoffplatte des Konferenztisches und hörte nicht mehr, worüber nun geredet wurde. Nach einiger Zeit erhob ich mich, nickte in die Runde und verließ die Besprechung. Wohl niemand dachte, auch ich nicht, dass ich nie wieder zurückkehren würde.
Ich ging zum Lift. Ich war mit etwas völlig anderem aus der Konferenz gekommen, als ich hineingegangen war. Ich hatte mich sprechen gehört und gestaunt. Als ich mich sagen hörte »die Sprache funktioniert nicht« war mir, als hätte sich