Textland - Made in Germany. Группа авторов

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mich, sie im Vorbeigehen anzulächeln. Als Erwachsene suchte ich später mit solchen Diven das Gespräch. Viele erwiesen sich beim näheren Kennenlernen als geistig verwirrt, das heißt, ihre Wirklichkeit war dauernd auf Kollisionskurs mit der offiziellen. Überhaupt die sogenannten Verrückten, die machten, wie man damals sagte, die Suppe fett. Ohne Dorftrottel und Stadtverrückte wären wir arm gewesen. Geistig arm, so paradox es auch klingen mag. Und ohne Hundebesitzer, die mit ihren Hunden bei jedem Wetter ihre Runden drehten, hätten wir die Verbindung zur Natur im urbanen Raum viel früher verloren. Sie müssen wissen, Hunde galten bis zu ihrem Verbot in den Städten Europas als Freunde des Menschen.

      DIE DAMEN: (lachen)

      MARIA: Damals wollte ich unbedingt einen schwarzen Königspudel haben, passend zu meinem Lockenkopf. Es schien mir, nur mit einem Hund wäre ich interessant für das andere Geschlecht. Später hatte ich mehrere Hunde, und das andere Geschlecht wurde uninteressant für mich. Überhaupt das Geschlechtliche. Die Menschen fühlten sich dadurch erst recht zu mir hingezogen. Männer, Frauen, Alt und Jung. Flüchtige und langjährige Freunde, alle mausetot. Hätte ich sie damals nicht zu Literatur verarbeitet, ich wage nicht zu denken, was dann wäre. So aber strahlt mir ihre Nähe auch hundert Jahre später in alle Körperregionen aus. Eine Nähe wie ein dumpfer Schmerz … Manchmal glaube ich … Egal. Sie schauen mich gerade so groß an. Drücke ich mich rätselhaft aus?

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Zu was hast du deine Freunde zerhackt?

      MARIA: Zu Literatur, zu Literatur habe ich sie verarbeitet. Das hieß damals so. In Schriftstellerkreisen. Vor meiner Anstellung bei Ihnen war ich Schriftstellerin. Das sagt Ihnen nichts?

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Nicht wirklich, aber wir können es uns vorstellen.

      MARIA: (aufgeregt) Passen Sie auf, außer den Hundebesitzern gab es noch einen besonderen Menschenschlag, den sogenannten Straßenfeger. In meiner Heimat wurde er liebevoll Misthuhn genannt. Wegen der scharrenden Geräusche auf dem Asphalt, die sein Reisigbesen produzierte. Es waren raue Gesellen, die Straßenfeger. Für eine Flasche Wodka konnten sie einem den Kopf abbeißen, und waren sie betrunken, so ließen sie sich leicht durch ein gutes Wort erweichen. Ihre Wattestiefel, ihre speckigen Fellmäntel, ihren einzigen Besitz, hätten sie einem Fremden schenken können. Wenn ich um halb acht meinen Schulweg antrat, lagen sie schon mit erdigen Gesichtern dösend im Gebüsch, den Besen akkurat an einen Baum gelehnt. Dann gab es noch Kleinwüchsige, die im Zirkus zusammen mit den Affen im Partnerlook auftraten. Man konnte an ihrer Erscheinung weder ihr Alter noch ihr Geschlecht ablesen. Hunde bellten sie aus, Kinder lachten sie aus, Autofahrer hupten sie an, während sie, den Blick gesenkt, mit einem madonnenhaften Lächeln zur nächsten Vorstellung eilten. Immer hatten sie es eilig, und eines Tages trieben sie es zu doll und flogen einfach weg. Es gab alte Blumenmädchen an Straßenkreuzungen, reinliche Marktfrauen mit Porzellanteint und schlechten Zähnen, Imker, die Honig in bauchigen Fünf-Liter-Gläsern zum Verkauf anboten, in deren bernsteinfarbener Tiefe eine einsame Arbeiterbiene als Zierde schwebte. Eine Weltraumfahrerleiche, nach der jedes Kind verrückt war. Pilzverkäufer wanderten mit Pilzketten behangen schüchtern umher, als Schatten ihrer selbst. Pfifferlinge, Röhrlinge, Steinpilze, diese Stimmen aus der Unterwelt, beschwörend, sie hallen noch in meinem Ohr. Oh wie lang ist das her! Fast unwahr, doch es war wahr. Meine Damen, Sie wollen wissen, was es noch in meiner Zeit gab? Bäuerinnen gab es, die, Hühner rupfend, innehielten und sich mit der blutigen Hand bekreuzigten, wenn die Kirchenglocken zu schlagen begannen. Fischverkäufer gab es, die zappelnde Fische in die Höhe hielten, Gewichtheber, die dicke Mädchen durch die Luft wirbelten – vor einer Menge Gaffer, während Zigeunerfrauen einfache Knete in Kaugummiverpackung an gutgläubige Schüler verkauften. Diese kauten das Zeug, ohne mit der Wimper zu zucken, und schauten den Portraitmalern zu, die in schattigen Alleen ihre Staffeleien aufklappten, auf die sie Musterportraits von Schönheiten und pausbackigen Kindern platzierten. Es gab tanzende Bären, geschwätzige Papageien und anhängliche Affen, die für etwas Kleingeld ein Kunststückchen vorführten. Es gab falsche Blinde, die echten Blinden ein Bein stellten, falsche Regisseure, die den Fehler machten, echte Polizistinnen zu sich nach Hause auf einen Tee einzuladen. Es gab Schuhputzer und Messerschleifer, Wahrsagerinnen, die, mit den Augen funkelnd, jungen Frauen verlockende Prophezeiungen im Vorbeilaufen zuraunten. Leierkastenmänner mit einem Holzbein, Pfeife rauchend, Mundmaler ohne Beine und Arme mit einem Pinsel zwischen den Zähnen. Vor ihnen – ein Glas Wasser, Aquarellfarben und eine vorgefertigte Zeichnung mit einer rührenden Familienszene, die den Passanten offenbaren sollte, was für ein Drama sich in der Seele des Torsos abspielte. Stöhnend hackte der Maler an einem Detail herum, wenn jemand an ihm vorbeiging, während ein scheinbar unbeteiligter Zuschauer immer wieder die Blechbüchse mit dem Kleingeld leerte. Es gab Kapellen, die in Parkanlagen die Luft Abend für Abend mit süßlichen und schiefen Klängen erfüllten, so dass Verliebte sich aufgefordert fühlten, durcheinanderzuwirbeln, aber auch reifere Liebende mit schlohweißem Haar schwangen das Tanzbein. Wie welkes Laub raschelten die Chiffonröcke. Weiße Kapitäne tanzten, mit Epauletten klimpernd. Wolken von Schweiß und Parfüm schwebten unter den bunten Lichterketten, und irgendwo in der Nähe zogen verstaubte Hundefänger mit blutunterlaufenen Augen an ihren Zigaretten und schauten den Tanzenden durch die Stämme der Bäume zu. Manchmal glaube ich, sie müssen noch alle da sein, all diese Menschen. Ich brauche nur zurückzukehren, um sie an ihren Plätzen zu finden. Aber wie, wie kann ich dieses Kunststück zustande bringen?

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Das klingt so perspektivlos, oder wie sagte man das früher? Traurig?

      DIE DAMEN: Sad, so sad!

      MARIA: Seitdem ich bei der Familie von Swipsmalheur Zuflucht gefunden habe, sitze ich da drüben hinter der Orangerie in meiner Kunstgrotte und gehe meinen Eremitenpflichten nach. Ich flicke meine Lumpen, wasche sie, sammle Reisig und mache Feuer. Kurzum, ich veredele diesen Garten. Jeder sieht, dass das ewige Heil mein Lebensinhalt ist, dass alle meine irdischen Taten nach dem Zeitlosen ausgerichtet sind. Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit schwelge ich nicht in apokalyptischer Furcht, ganz im Gegenteil. Ich muss immer wieder lächeln. Über dies und jenes. Wenn ich merke, dass die gnädige Frau die Terrasse betritt, tue ich so, als würde ich meine Hände am Feuer wärmen. In Wirklichkeit aber brauche ich das nicht. Etwas anderes wärmt mich von innen.

      DIE DAMEN: Der Wermut!

      MARIA: Zum Bespiel der Hundert-Rubel-Schein. Ich sah ihn, ich trat auf ihn und rutschte so in einer Schlange Richtung Kasse, während ein hagerer Mann sich in der Mitte des verspiegelten Saals verzweifelt drehte, Konditorei „Der goldene Schlüssel“. Oder die Bank mit der stacheligen abblätternden Farbe, auf der ich unter einem Nussbaum saß und mit meinem frisch angelegten Gipsbein Nüsse knackte, ein Brandopfer neben mir – seine Beine reichten kaum bis zum Boden. Der Garten eines Kinderhospitals. Die hundert Rubel wärmen mich und die stachlige Bank, aber auch der aus der Dunkelheit eines Gemüseladens herüberwehende Duft von Verwesung und Erde, das Glitzern der Lidschatten der Verkäuferin hinter dem Tresen. Der Bäckerladen mit den an Schnüren herabhängenden Gabeln, diese holzgetäfelte Höhle voller unfreundlicher Frauen. Die Brotlaibe. Diese Kruste mit den drei Einkerbungen, deren Sinn mir für immer verborgen bleiben wird. Die Telefonzellen mit der zerkratzten Wählscheibe. Magische Lichtinseln in der Nacht. Wie oft betrat ich sie und glaubte, ins Weltall zu fliegen. Leise singende Betrunkene in der Gosse, mit dem Gesicht zu den Sternen gewandt. Ging man an ihnen vorbei, erhoben sie die Stimmen. Der Barfuß-Lauf mit den Freunden über Glasscherben im Staubsamt, klebriges Harz aus einer Pflaumenbaumwunde – eine Kostbarkeit.

      DIE DAMEN: Das ist nicht mehr lustig.

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Es wird mir ganz anders.

      MARIA: Und dann kommt dieser Winter, der langersehnte schneereiche, in dem man plötzlich weiß: Etwas ist anders. Dieser Junge mit dem Meeresblick, dieser Junge mit dem Stoppelhaar, seine Halsadern schwellen an, wenn er schreit, Schneeballschlachten, blutende Nasen, der erste Kuss, salzig und rostig im Nachklang. Das wärmt. Das hält mich zusammen, das macht mich unsterblich. Glaube ich manchmal.

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