Das Virus und das Digitale. Roberto Simanowski
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Berlin, 10. Januar 2021
Prolog
Alle wollten sie Sex. Oder zumindest Fun. Jedenfalls waren sie sehr jung und laut und high. Und sie trugen, passend zur Hitze und Nähe des Atlantiks, nur Bikinis und Badehosen. Studienanfängerinnen, die ihre Frühjahrsferien in Miami, einem der wärmsten Orte der USA zu dieser Zeit, verbrachten und, gerade mal ein halbes Jahr befreit von den Eltern und der Kleinstadt in Ohio oder Kentucky, nur das eine wollten: das Leben genießen. In ein paar Tagen würden sie das Corona-Virus in die verschiedensten Teile der USA bringen – manche würden dabei nicht mehr als ein Kratzen im Hals verspüren, manche würden schuld sein am Tod der Großeltern.
Es war der 5. März 2020; wir befanden uns im SLS Hotel in Miami South Beach, an das der Bereich mit der Spring Break Party grenzte. Covid-19 war noch ein Problem anderswo, weit weg in Wuhan oder China. Das änderte sich schnell, wie vieles damals. Als wir fünf Tage später wieder in Nashville, Tennessee, ankamen, war der Beschluss schon gefallen, die Fortführung des Lehrbetriebs um eine Woche zu verschieben. Drei Tage später rief der Präsident der Vereinigten Staaten den nationalen Notstand aus, am 13. März, zwei Tage nachdem die WHO das erste Mal von einer Pandemie gesprochen hatte. Für uns hieß das: Fortan nur noch Unterricht am Bildschirm, Restaurants nur noch als Take-out und sechs Wochen Hausarrest. Plötzlich waren wir eingesperrt, in einer Wohnung, die nicht unsere war, in einer Stadt, die wir nicht sonderlich mochten, in einem Land, zu dem wir nicht gehörten. Dabei hatte das Jahr so gut angefangen.
Am 1. Januar 2020 um sieben Uhr morgens saß ich in einem Berliner Taxi zum Flugzeug nach Nashville, im Kofferraum zwei große und zwei kleinere Gepäckstücke, neben mir ein zweijähriger West Highland White Terrier, der noch etwas durcheinander war von all dem Krach der letzten Nacht, aber auch schon gespannt aufs neue Abenteuer. Es war seine zweite große Reise. Die erste, ein Jahr zuvor, hatte ihn nach Rio de Janeiro geführt, zur Familie meiner Frau. Meine Frau war auch jetzt in Rio, noch beim Feiern am Strand von Ipanema, wie ich gerade am Telefon sah. In einer Woche würde auch sie nach Nashville kommen.
Wir waren sehr gespannt auf dieses halbe Jahr USA, wo meine Frau einmal studiert und ich einmal zehn Jahre gelebt hatte, erst als Nachwuchswissenschaftler, dann als Professor an einer Universität in New England. Nun kam ich zurück als Gastprofessor in die Südstaaten, im Gepäck ein Seminar zur Perspektive der deutschen Medienwissenschaft auf den Prozess der Digitalisierung. Es gab viele Anmeldungen vor allem von Doktorand/innen, was spannende Sitzungen versprach. Auch der Workshop zu Kosmopolitismus und sozialen Netzwerken, den ich mit meiner Frau anbot (Kosmopolitismus war ihr Forschungsfeld), traf auf großes Interesse. Alles versprach „a good time“ zu werden, wie man hier sagt.
Nach der Erklärung des nationalen Notstands schickten die Universitäten die Spring-Break-Fun&Sex-Superspreader und alle anderen Studenten nach Hause. Unterricht fand nur noch am Bildschirm statt. Ich sah keine meiner Kolleginnen am Department je anders wieder als in einem Zoom-Meeting. Vorbei die Pläne, mal zum Dinner zu Hause vorbeizukommen oder sich zumindest zu einem Kaffee zu treffen. Vorbei auch die Pläne, übers Wochenende und nach dem Semester Freunde in Bloomington, Boston, Seattle und New York zu besuchen.
Nur der Hund freute sich, der nun auf dem verwaisten Campus leinenlos Eichhörnchen jagen durfte. Auch das änderte sich aber bald, als ihm klar wurde, dass wir ihn von anderen Menschen und Hunden fernhielten. Dabei liebte er die Leute hier, die sich immer mit solch süßer Stimme zum Streicheln zu ihm bückten. Die Manager in unserem Apartmenthaus wollten ihn im April sogar zum „Pet of the month“ machen: Dann würde er sich bei jedem Gassigehen auf dem Bildschirm in der Eingangshalle sehen! Warum war jetzt alles anders? Und wie passte das zu den vielen Leckerlis, die es plötzlich gab! Erst Wochen später durfte er wieder an anderen Hunden schnüffeln, nach der langen Reise, am Ort von vorher, als seine Besitzer aufgehört hatten, jede Banane und jede Flasche Bier, die ein Mann in großen Papiertüten ins Haus brachte, abzuwaschen.
Bald hieß es: Nein, das Virus ist keineswegs unparteiisch. Es trifft nicht unterschiedslos alle. Es trifft die Armen und die Afro-Amerikaner mehr als die weiße Mittelschicht. Der Grund war offensichtlich: Schlechte medizinische Betreuung, ungesunde Ernährung und enge Wohnverhältnisse sind keine guten Voraussetzungen, um einem Angriff auf das Immunsystem zu trotzen. Zu Ende gedacht hieß das auch: Das Virus trifft nicht jedes Land gleichermaßen. Es trifft vor allem die Länder mit schlechtem Sozialsystem und durchschnittlich niedrigem Bildungsgrad. Der Erfolg des Virus wird die sozialen Vorbedingungen spiegeln, dachte ich, als wir zum Hundearzt fuhren, um die Papiere für die Ausreise in Ordnung zu bringen. Die Uber-Fahrerin hatte uns beim Einsteigen gefragt, ob irgendwer von uns niese oder sonstige Anzeichen von Erkältung habe. Sie dürfe sich das Virus auf keinen Fall einfangen, sie müsse eine alte Mutter versorgen. Sie, selbst längst jenseits der 50, fragte es in der leichtherzigen Art der Südstaatler. Die Angst dahinter war klar erkennbar, und sie war völlig berechtigt.
Wie soll ein Land ein Virus bekämpfen, dessen Bürger nicht zuhause bleiben, wenn sie eigentlich zuhause bleiben sollten, weil man sich den Verdienstausfall nicht leisten kann, wenn man von der Hand in den Mund lebt! Was waren die 1 200 Dollar Corona-Wirtschaftshilfe, die jeder Steuerzahler in den USA einmalig erhielt, gegen die 80 Prozent Lohnfortzahlung, die es in Deutschland für Corona-Kurzarbeit gab. Ohne Zweifel: Dieses Land war strukturell nicht auf den Solidarakt vorbereitet, der jetzt von allen im Interesse aller verlangt war. Auch mental war es weit davon entfernt, denn am unbedingten Individualismus zerbricht hier regelmäßig jeder Versuch staatlicher Regulierungen. Wer sich seine Waffe nicht nehmen lässt, wird sich auch keinen Maulkorb, wie die Masken bald genannt wurden, umbinden lassen. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis paramilitärische Gruppen Politiker kidnappen, deren Anti-Corona-Maßnahmen ihre Freiheit einschränken – ganz abgesehen davon, dass dieses Land von einem Narzissten regiert wurde, der Maskenträger verspottete und öffentlich über die Injektion von Desinfektionsmitteln zur Virenbekämpfung sinnierte. Trump war die tägliche Widerlegung seiner These, dass kein Land besser darauf vorbereitet sei als die USA, dieser Krise entgegenzutreten. Nein, in den USA war kein Bleiben für uns. Es war eine tickende Zeitbombe.
Und Brasilien, wo wir nach dieser Gastprofessur einige Monate hatten verbringen wollen? Weder das Sozialsystem noch der Präsident waren dort besser. Alle Freunde und Verwandten meiner Frau warnten uns davor, ins Land zu kommen. Seid froh, sagten sie, dass ihr einen deutschen Pass besitzt. Sie hatten Recht. Deutschland erschien in dieser Situation wie ein sicherer Hafen, den wir nur noch erreichen mussten – mit einem Flugzeug voller potenzieller Virenträger, wenn wir denn überhaupt in der Lage waren, ein Ticket zu bekommen.
Zwei Wochen nach dem Flug, während der wir wie vorgeschrieben nicht die Wohnung verlassen hatten, saß ich in Berlin mit einem alten Freund auf der Bank im Park vor unserem Haus, mit einem Bier, wie alle hier, jeder am Ende der Sitzfläche, bemüht, uns beim Sprechen nicht anzusehen. Nach der Nervenanspannung der Ticketbesorgung (die Fluggesellschaft kündigte zweimal kurz vor dem Termin einen Teil der Verbindung) erwies sich der Flug dann als äußerst stressfrei, wenn man die permanente Angst abzog, von diesem oder jener gerade angesteckt worden zu sein. Die Flughäfen waren so spärlich besucht wie wohl seit fünfzig Jahren nicht mehr. Es war, als hätten wir uns in die Vergangenheit gebeamt, wobei nicht