Das Virus und das Digitale. Roberto Simanowski
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Die Reichensteuer kam so wenig wie der Mietenerlass. Aber immerhin forderte jetzt kein „Gesundheitsökonom“ mehr, wie noch wenige Monate zuvor, in Deutschland die Hälfte der Krankenhäuser wegen mangelnder Effizienz zu schließen – eine „Zerstörung von sozialer Infrastruktur in einem geradezu abenteuerlichen Ausmaß“, wie der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft kommentierte.14 Die renditeorientierte Organisation des Gesundheitssystems und der schlanke Staat des Neoliberalismus hatten in Corona-Zeiten einen schweren Stand. Oder beförderte im Gegenteil die Pandemie den Neoliberalismus? Denn man konnte ja durchaus das epidemiologische Isolationsgebot als eine Stärkung des neoliberalen Prinzips der Selbstsorge interpretieren, als eine Art „neosoziale“ Privatisierung der Solidarität, mit der mal wieder alle Verantwortlichkeit nicht beim Staat, sondern beim Individuum liegt.15 Dies würde jedoch die Symbolkraft der epidemiologischen Notwendigkeit unzulässig überhöhen und ignorieren, dass zumindest in Deutschland das Gebot der Eigenverantwortung von der finanziellen Unterstützung des Staates flankiert und somit überhaupt erst ermöglicht wird. Der individuellen Sorge steht von Anfang an – man denke an die Rückholaktion der im Ausland gestrandeten Bürger – die Schutzpflicht des Staates zur Seite. Das heißt nicht, dass der Bürger aus eigener Verantwortung für die Gemeinschaft entlassen sei. Aber diese Verantwortung bestätigt nicht das Modell des Neoliberalismus, sondern revitalisiert den Gedanken des Gemeinwohls.
War Covid-19 also der Anfang vom Ende des Neoliberalismus? War es die Zeit für einen neuen New Deal? Rückte Corona die Welt nach links? Die öffentliche Diskussion prekärer Arbeitsbedingungen (wie der Saisonkräfte in den Schlachthöfen) und der „Zukunft der Arbeit nach Corona“16 ließ das durchaus vermuten. Slavoj Žižek, das enfant terrible der zeitgenössischen Philosophie, sah bereits am 27. Februar in Covid-19 die lang ersehnte Katastrophe, die auf der Bühne der Gesellschaftsentwürfe alle Karten neu mischt, und brachte seine Hoffnung, ungeduldig selbst hier, gleich im Titel seines Textes unter: „Coronavirus is ‚Kill Bill‘-esque blow to capitalism and could lead to reinvention of communism“. Für einen Moment schien es, als gäbe es doch noch eine Alternative zur Alternativlosigkeit des Kapitalismus; und für manche hieß sie gar Kommunismus. Corona hatte den „kapitalistischen Autopiloten“ abgeschaltet und stellte ganz unverhofft eine „Verschiebung von Kräfteverhältnissen“ in Aussicht.17
So jedenfalls war die Hoffnung, verbunden mit der Hoffnung, die Kraft möge sich auch in die richtige Richtung verschieben. Erste empirische Studien dämpften die Erwartung und identifizierten die bald aufkommenden Proteste der Querdenker gegen die Corona-Maßnahmen als eine Bewegung, „die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht“.18 Könnte es sein, dass dieses Sammelsurium an ganz verschiedenen Positionen das Protestpotenzial der Gesellschaft kidnappte und sich dieses so nicht, wie Žižek und andere hoffen, gegen die sozialen und ökologischen Verirrungen des Kapitalismus richtet, sondern gegen „die da oben“? Es wäre eine der schlimmsten unter den noch unerkannten Nebenwirkungen der Pandemie.
Die Hoffnung, so wird es später heißen, dass die Regierung die Gesellschaft sicher durch die Krise manövriert, veränderte die Perspektive auf das Verhältnis von Individuum und Staat. Und zwar nicht nur hinsichtlich der politischen Ökonomie. Man war zu Verzichtsleistungen im Interesse der Allgemeinheit bereit, selbst wenn es um Bewegungs- und Versammlungsfreiheit oder informationelle Selbstbestimmung ging. Man war bereit, aus staatsbürgerlicher Verantwortung bürgerliche Rechte aufzugeben, jedenfalls wenn man in einer stabilen Demokratie lebte, wo solche Einschränkungen mit vielem Wenn und Aber beschlossen wurden. Der Kult des Individuums, der Modus der kompetitiven Singularitäten, der die Moderne und zumal das 21. Jahrhundert bestimmt, schien weitgehend suspendiert zugunsten der Belange des gesellschaftlichen Ganzen.
In gewisser Weise war die Pandemie ein Geschenk zu Hegels 250. Geburtstag, der ins Jahr 2020 fiel. Denn wer im Krieg ein „sittliches Moment“ sieht, weil er das Gemeinwesen zusammenschweißt, muss Gefallen finden an einer Pandemie, die das Individuum ebenfalls zwingt, sich als Teil eines größeren Ganzen zu sehen.19 Die Pandemie zerbricht genauso wie der Krieg das „Fürsichsein des einzelnen“ und führt diesen in die Gemeinschaft zurück – ohne den schlechten Nachgeschmack, für die falsche Sache gekämpft zu haben.
Auch diesseits gewagter Vergleiche passte die Pandemie gut zum Hegel-Jahr. Denn Hegel ist berühmt als Denker der Freiheit und ihrer Grenzen, als Philosoph der französischen Revolution und des preußischen Staates. Bei ihm ist das Individuum dem „sittlichen Staat“ als „substantieller Einheit“ und „höchster Pflicht“ unterstellt. Das hat ihm den Vorwurf eingebracht, Vordenker des Totalitarismus zu sein; ein Vorwurf, den das berühmteste Hegel-Zitat in der DDR (aus der Feder Friedrich Engels) zu bestätigen scheint: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Die neuere Hegelforschung betont dagegen, dass Hegel sowohl die Rechte des Individuums als auch die Kräfte des Marktes dem Interesse des gesellschaftlichen Gesamtwohls unterstellt. Genau diese doppelte Zügelung der Freiheit im Interesse des Gemeinwohls schien nun die Losung zu sein, wenn zum einen das neoliberalistische Wirtschaftsprinzip kritisiert und zum anderen die Einschränkung der individuellen Freiheit gefordert wurde.
Die Frage, die über das Hegel-Jahr und die Corona-Pandemie hinausweist, ist freilich die: Lässt sich die Entschlossenheit, mit der wir jetzt gemeinsam dafür kämpfen, die Infektionskurve niedrigzuhalten, auch für die Begrenzung der Erderwärmung abrufen? Wird man auch noch zusammenhalten, wenn man keinen Abstand mehr halten muss und der Tod von einer konkreten Bedrohung wieder zu einer unbestimmten Gefahr für künftige Generationen verschwommen ist? Ließe sich die umweltfreundliche Stubenhockerei und die Einschränkung individueller Freiheiten zum Schutz unser aller Gesundheit adaptieren, um unser aller Umwelt zu schützen?
Der Bundespräsident wollte es am Ende des Jahres durchaus so sehen: „Wie viel wir doch miteinander bewegen können, das erleben wir gerade jetzt in der Krise. Aus dieser Erfahrung können wir Mut und Kraft schöpfen, auch um uns gegen andere Bedrohungen wie den Klimawandel oder gegen Hunger und Armut zu engagieren.“20 Ob die Entbehrungsbereitschaft der Bevölkerung während der Corona-Krise tatsächlich Mut und Kraft gibt auch für den Kampf gegen den Klimawandel, wird sich jenseits der Textsorte Weihnachtsansprache und jenseits auch von Ostern 2021, bis wohin der zweite Lockdown gelten könnte, erst noch zeigen müssen. Wie eine Pandemie die Gesellschaft verändert, hängt auch davon ab, wie lange sie dauert. Insofern scheint jede Äußerung vor dem Ende zu früh zu kommen, erst recht jene Bücher, die schon im Herbst, also noch vor dem zweiten Lockdown, entweder eine Zeit voller Debatten und politischer Gestaltungslust prophezeiten oder Zweifel hegten, dass aus dieser Krise irgendetwas werden könnte.21 Aber Zukunft wird auch im Mutmaßen über sie gemacht. Jede öffentliche Äußerung ist ein performativer Akt, der zugleich ein bisschen das befördert, was er beschwört. Denn am Ende kommt es darauf an, welche Angebote parat liegen, wenn der Autopilot deaktiviert ist und die Frage nach alternativen Ideen entsteht. So kommt jeder schon vor ihrem Ende erschienene Text über die Pandemie, der nicht nur analysieren, sondern auch inspirieren will, zugleich zu früh und gerade zur rechten Zeit.
Die Frage, was von Corona bleibt, reicht für viele Texte, Podcasts und Talk-Shows. Setzt man niedriger an als beim Kommunismus oder gar Anthropozän, wird das Vermuten einfach. Bleiben wird sicher die Maske, die in asiatischen Kulturen längst zu den Anstandsregeln