Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt. Blaise Pascal
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Vor allem aber hat Pascal seine bleibende Bedeutung als Denker der menschlichen Existenz. Wiederum ist der Vergleich mit René Descartes erhellend. Letzterem geht es um die Gewissheit des Denkens, der theoretischen Welterkenntnis. Sein »methodischer Zweifel« führt ihn schließlich zu seinem Cogito, ergo sum als dem unerschütterlichen Fundament der Wahrheit und Gewissheit. Pascal aber, in dessen Pensées die Auseinandersetzung zwischen Skeptikern (»Pyrrhoniker«) und Dogmatisten eine große Rolle spielt, geht es um die Ungesichertheit, Ausgesetztheit, Bedrohtheit der menschlichen Existenz überhaupt, um sein Verlorensein im unermesslichen All, sein »Sein zum Tode«, die Widersprüchlichkeit seiner Existenz. Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit, die Erschließung sowohl des Mikro- wie des Makrokosmos, werfen den Menschen gerade auf sich selbst und seine Fragilität zurück. Gerade das, was seine Größe ausmacht und ihn heraushebt aus allen anderen Seinsarten, die Fähigkeit zu denken, ist gleichzeitig auch Grund seines Elends. In unübertrefflichen Formulierungen kennzeichnet Pascal den Menschen als »Mitte zwischen Nichts und All«. Nicht das »Ich« des »cogito« Descartes‹, sondern vielmehr das existenzielle Ich, das menschliche Dasein in seiner eigentümlichen Stellung in der Welt, ist Gegenstand seiner Analyse. Pascal erweist sich als psychologisch genauer Beobachter, wenn er beschreibt, wie der Mensch der Konfrontation mit dem eigenen Dasein entgehen will. Die geschäftige Tätigkeit des Menschen entlarvt er schonungslos als Zerstreuung, die keinen anderen Zweck hat, als den Menschen der radikalen Besinnung auf sich selbst zu entheben. Mit seinen scharfen Beschreibungen der Conditio humana nimmt Pascal Kierkegaard, Heidegger und Sartre vorweg.
Die Paradoxie menschlicher Existenz eröffnet auch den Zugang zu dem, was Pascal mit einer »Apologie« der christlichen Religion intendierte. Der Anspruch, die Wahrheit des christlichen Glaubens mit Vernunftgründen zu rechtfertigen, ist bereits im Neuen Testament formuliert (vgl. 1 Petr 3,14). Im Gegensatz zu vielen seiner prominenten Zeitgenossen weist Pascal jedoch jeden Versuch einer metaphysischen Beweisführung – im System Descartes ist dies ein zentraler Baustein, denn nur über den Umweg eines metaphysischen Gottesbeweises schlägt er die Brücke von der denkenden Selbstgewissheit zur Existenz der Außenwelt – von sich. Eine solche Beweisbarkeit verfehlte gerade ihren Gegenstand. Der ewig unbegreifbare Gott kann nicht auf dem Weg logischer Beweisführung erfasst werden. Wie sehr unterscheidet sich Pascal hierin von so manchen Zeitgenossen und deren apologetischen Werken, die heute allerdings in Vergessenheit geraten sind! Wie sehr unterscheidet er sich vom Triumphalismus eines Jacques-Bénigne Bossuet, der sein Erstaunen darüber äußerte, dass nicht jedermann die so sichtbaren Werke der Vorsehung erkenne. Der Glaube ist für Pascal keine Sache theoretischer Beweisführung, sondern des Engagements der gesamten menschlichen Existenz. Er erfordert einen radikalen Akt der Entscheidung. Eine Rechtfertigung des Glaubens kann also nur der denkerische Nachvollzug einer existenziellen Entscheidung sein und diese keineswegs ersetzen wollen. Damit aber befindet sich Pascal im Gegensatz zur herkömmlichen Apologetik auf der Höhe fundamentaltheologischer Reflexion unter dem Primat der Praxis. Pascal wendet sich deshalb an die »Ungläubigen«, indem er auf die gemeinsame Erfahrung des menschlichen Daseins verweist.
Eines der meistdiskutierten Fragmente Pascals in diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel die Wette. Ausgehend von den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung will Pascal hier zeigen, dass das »Setzen« auf Gott in jedem Fall die bessere Wahl sei. Als gültig festzuhalten bleibt hier in jedem Fall, dass Pascal den Glauben als einen notwendigen Akt der Entscheidung begreift: Man muss wählen, selbst wenn man sich der bewussten Entscheidung zu entziehen versucht, hat man bereits gewählt. Als gültig festzuhalten bleibt, dass es bei der Frage nach Gott nicht um theoretische Spekulation, sondern um eine praktische Grundoption des Daseins geht. Um die Existenz Gottes wissen wir durch den Glauben, und nicht umgekehrt. Die Konsequenzen für die Gestaltung des Lebens stehen im Mittelpunkt. Damit nimmt Pascal eine – m.E. heute nicht mehr zu unterbietende – Position Immanuel Kants vorweg, für den Gott eines der »Postulate der praktischen Vernunft« und eben nicht metaphysischer Erkenntnis war. Es bleibt aber gleichzeitig die Frage, ob Pascal mit diesem rationalistischen Kalkül den christlichen Glauben in seiner materialen Substanz wirklich adäquat einholt. Dies wird in der konkreten Beschreibung der praktischen Konsequenzen der Wette überdeutlich: »Welches Übel hättet Ihr nun zu gewärtigen, wenn Ihr diesen Standpunkt bezieht? Ihr werdet treu, ehrbar, demütig, dankbar, wohltätig, ein aufrichtiger und wahrer Freund sein. Tatsächlich werdet Ihr nichts mit vergifteten Vergnügungen zu schaffen haben, nichts mit Ruhm und eitlen Genüssen. Doch habt Ihr dafür nicht andere Freuden?« Was hier beschrieben wird, ist harmlose und behagliche bürgerliche Anständigkeit. Kann dies der Radikalität eines Glaubens gerecht werden, der im Ernstfall nach dem Vorbild seines Stifters sein Leben aufs Spiel setzt? Wird hier das Christentum nicht auf das Maß biederen Bürgertums herabgestutzt? Diese Frage ist nicht nur an Pascal zu stellen, sondern viel mehr noch an zeitgenössische Vertreter einer bürgerlichen Religiosität wie etwa an Hans Küng, für dessen eigenes Glaubensverständnis Pascals Wette zentral ist.
Dass das wirkmächtigste Werk Pascals eine Sammlung von Fragmenten ist, entspricht möglicherweise seinen Inhalten mehr als ein vollendetes Opus. Die Gebrochenheit des menschlichen Daseins findet hier ihre adäquate äußere Gestalt. Und gerade sein aphoristischer Charakter hat die Dichte und geschliffene Zuspitzung seiner wesentlichen Einsichten so deutlich hervortreten lassen. Pascal bleibt mit seinen Pensées eine Provokation und Herausforderung für jede Art »halbierter« Aufklärung, jede Art von Rationalismus, der seine eigenen Voraussetzungen nicht mehr zu denken imstande ist, und jede Art von Banalisierung des Menschseins.6
Bruno Kern
1Die vorliegende Auswahl hat sich zwar zum Teil an die bestehenden Einteilungen und Kapitelüberschriften angelehnt, ist aber im Blick auf die heutigen Leserinnen und Leser frei damit umgegangen. Die editorische Ungesichertheit der bestehenden Einteilungen und die unterschiedlichen Ausgaben lassen das als gerechtfertigt erscheinen. Die Zahlen in Klammern hinter den einzelnen Fragmenten ermöglichen jedoch das leichte Auffinden der entsprechenden Passagen in der Ausgabe von Sellier (s. Literaturangaben).
2 Es geht um den mathematischen Beweis, dass die Winkelsumme eines Dreiecks zwei rechten Winkeln entspricht.
3 Auf die recht komplizierte Editionsgeschichte soll hier nicht im Detail eingegangen werden. Vgl. dazu vor allem Sellier 1991, 23 – 32.
4 Hans Küng stellt in seiner Interpretation zwar den unmittelbaren Zusammenhang zur methodischen Reflexion der mathematischen Erkenntnis nicht in dieser Deutlichkeit her, aber auch er betont, dass »Herz« bei Pascal keineswegs als Widerspruch zur Vernunft gesehen werden darf: »[…] ›Herz‹ meint nicht das Irrational-Emotionale im Gegensatz zum Rational-Logischen, nicht eine ›Seele‹ im Gegensatz zum ›Geist‹. Herz meint jene – durch das körperliche Organ symbolisch bezeichnete – geistige Personmitte des Menschen, sein innerstes Wirkzentrum, den Ausgangspunkt seiner dynamisch-personalen Beziehungen zum Anderen, das exakte Organ menschlicher Ganzheitsverfassung. Herz meint durchaus den menschlichen Geist: aber nicht insofern er ein rein theoretisch denkender, schlussfolgernder, sondern insofern er spontan präsenter, intuitiv erspürender, existentiell erkennender, ganzhaft wertender ja im weitesten Sinn liebender (oder auch hassender) Geist ist. Von daher versteht man vielleicht Pascals meistzitiertes, aber kaum zu übersetzendes Wortspiel richtig: ›Le cœur a ses raison, que la raison ne connaît point: on le sait en milles choses.‹ – ›Das Herz hat seine (Vernunft-)Gründe, die die Vernunft nicht kennt; man erfährt das in tausend Dingen.‹ Das also ist die Logik des Herzens: das Herz hat seine eigene Vernunft!« (Küng 1978, 72).
5 Hypothesen können grundsätzlich nicht verifiziert werden, da man hierfür alle positiven Fälle erfassen müsste. Hingegen genügt ein einziger einer Hypothese widersprechender