Weltgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burckhardt
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Und neben der Wandelbarkeit steht die Vielheit, das Nebeneinander von Völkern und Kulturen, welche wesentlich als Gegensätze oder als Ergänzungen erscheinen. Man möchte sich eine riesige Geisteslandkarte auf der Basis einer unermesslichen Ethnographie denken, welche Materielles und Geistiges zusammen umfassen müsste und allen Rassen, Völkern, Sitten und Religionen im Zusammenhang gerecht zu werden strebte. Obwohl dann auch in späten, abgeleiteten Perioden bisweilen ein scheinbares oder wirkliches Zusammenpulsieren der Menschheit eintritt, wie die religiöse Bewegung des 6. Jahrhunderts v. Chr. von China bis Ionien3) und die religiöse Bewegung zu Luthers Zeit in Deutschland und in Indien4).
Und nun das große durchgehende Hauptphänomen: Es entsteht eine geschichtliche Macht von höchster momentaner Berechtigung; irdische Lebensformen aller Art: Verfassungen, bevorrechtete Stände, eine tief mit dem ganzen Zeitlichen verflochtene Religion, ein großer Besitzstand, eine vollständige gesellschaftliche Sitte, eine bestimmte Rechtsanschauung entwickeln sich daraus oder hängen sich daran und halten sich mit der Zeit für Stützen dieser Macht, ja für allein mögliche Träger der sittlichen Kräfte der Zeit. Allein der Geist ist ein Wühler und arbeitet weiter. Freilich widerstreben diese Lebensformen einer Änderung, aber der Bruch, sei es durch Revolution oder durch allmähliche Verwesung, der Sturz von Moralen und Religionen, der vermeintliche Untergang, ja Weltuntergang kommt doch. Inzwischen aber baut der Geist etwas Neues, dessen äußeres Gehäuse mit der Zeit dasselbe Schicksal erleiden wird.
Gegenüber von solchen geschichtlichen Mächten pflegt sich das zeitgenössische Individuum in völliger Ohnmacht zu fühlen; es fällt in der Regel der angreifenden oder der widerstrebenden Partei zum Dienst anheim. Wenige Zeitgenossen haben für sich einen archimedischen Punkt außerhalb der Vorgänge gewonnen und vermögen die Dinge »geistig zu überwinden« und vielleicht ist dabei die Satisfaktion nicht groß und sie können sich eines elegischen Gefühls nicht erwehren, weil sie alle anderen in der Dienstbarkeit lassen müssen. Erst in späterer Zeit wird der Geist vollkommen frei über solcher Vergangenheit schweben.
Die Wirkung des Hauptphänomens ist das geschichtliche Leben, wie es tausendgestaltig, komplex, unter allen möglichen Verkappungen, frei und unfrei daherwogt, bald durch Massen, bald durch Individuen sprechend, bald optimistisch, bald pessimistisch gestimmt, Staaten, Religionen, Kulturen gründend und zerstörend, bald sich selbst ein dumpfes Rätsel, mehr von dunklen Gefühlen, die durch die Phantasie vermittelt sind, als von Reflexionen geführt, bald von lauter Reflexion begleitet und dann wieder mit einzelnen Vorahnungen des viel später erst sich Erfüllenden.
Diesem ganzen Wesen, dem wir als Menschen einer bestimmten Zeit unvermeidlich unseren passiven Tribut bezahlen, müssen wir zugleich beschauend gegenübertreten.
Und nun gedenken wir auch der Größe unserer Verpflichtung gegen die Vergangenheit als ein geistiges Kontinuum, welches mit zu unserem höchsten geistigen Besitz gehört. Alles, was im Entferntesten zu dieser Kunde dienen kann, muss mit aller Anstrengung und Aufwand gesammelt werden, bis wir zur Rekonstruktion ganzer vergangener Geisteshorizonte gelangen. Das Verhältnis jedes Jahrhunderts zu diesem Erbe ist an sich schon Erkenntnis, d. h. etwas Neues, welches von der nächsten Generation wieder als etwas historisches Gewordenes, d. h. Überwundenes zum Erbe geschlagen werden wird.
Auf diesen Vorteil verzichten zunächst nur Barbaren, welche ihre Kulturhülle als eine gegebene nie durchbrechen. Ihre Barbarei ist ihre Geschichtslosigkeit und vice versa. Sie haben etwa Stammsagen und ein Bewusstsein des Kontrastes mit ihren Feinden, also historisch-ethnographische Anfänge. Allein das Tun bleibt rassenhaft unfrei; schon von der Gebundenheit der Sitte usw. durch Symbole kann erst das Wissen von einer Vergangenheit frei machen.
Und sodann verzichten auf das Geschichtliche noch Amerikaner, d. h. ungeschichtliche Bildungsmenschen, welche es dann doch von der Alten Welt her nicht ganz los werden. Es hängt ihnen alsdann unfrei, als Trödel an. Dahin gehören die Wappen der New Yorker Reichen, die absurdesten Formen der kalvinistischen Religion, der Geisterspuk usw., zu welchem allem aus der bunten Einwanderung noch die Bildung eines neuamerikanischen leiblichen Typus von zweifelhafter Art und Dauerhaftigkeit kommt.
Unser Geist ist aber zu dieser Aufgabe in hohem Grade von der Natur ausgerüstet.
Der Geist ist die Kraft, jedes Zeitliche ideal aufzufassen. Er ist idealer Art, die Dinge in ihrer äußeren Gestalt sind es nicht.
Unser Auge ist sonnenhaft, sonst sähe es die Sonne nicht5). Der Geist muss die Erinnerung an sein Durchleben der verschiedenen Erdenzeiten in seinen Besitz verwandeln. Was einst Jubel und Jammer war, muss nun Erkenntnis werden, wie eigentlich auch im Leben des Einzelnen.
Damit erhält auch der Satz Historia vitae magistra einen höheren und zugleich bescheideneren Sinn. Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.
Wie weit ist nun das Resultat Skeptizismus? Gewiss hat der wahre Skeptizismus seine Stellung in einer Welt, wo Anfänge und Ende unbekannt sind und die Mitte in beständiger Bewegung ist; denn die Aufbesserung vonseiten der Religion bleibt hier auf sich beruhen.
Vom unechten läuft zu gewissen Zeiten die Welt ohnehin voll, und wir sind nicht daran schuld; bisweilen kommt er dann plötzlich aus der Mode. Vom echten könnte man nie genug haben.
Das Wahre, Gute, Schöne braucht bei unserer Betrachtung, richtig gefasst, keine Not zu leiden. Das Wahre und Gute ist mannigfach zeitlich gefärbt und bedingt; auch z. B. das Gewissen ist zeitlich bedingt; aber die Hingebung, zumal die mit Gefahren und Opfern verbundene, an das zeitlich bedingte Wahre und Gute ist etwas unbedingt Herrliches. Das Schöne freilich könnte über die Zeiten und ihren Wechsel erhaben sein, bildet überhaupt eine Welt für sich. Homer und Phidias sind noch schön, während das Wahre und Gute jener Zeit nicht mehr ganz das unsrige ist.
Unsere Kontemplation ist aber nicht nur ein Recht und eine Pflicht, sondern zugleich ein hohes Bedürfnis; sie ist unsere Freiheit mitten im Bewusstsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten.
Aber freilich kommen wir auf das Bewusstsein der allgemeinen und individuellen Mängel unseres Erkenntnisvermögens und der sonstigen Gefahren, wodurch die Erkenntnis bedroht ist, oft zurück.
Vor allem müssen wir das Verhältnis der beiden Pole Erkenntnis und Absichten bedenken. Schon in der geschichtlichen Aufzeichnung begegnet unser Verlangen nach Erkenntnis oft einer dichten Hecke von Absichten, welche sich im Gewand von Überlieferungen zu geben suchen. Außerdem aber können wir uns von den Absichten unserer eigenen Zeit und Persönlichkeit nie ganz losmachen, und dies ist vielleicht der schlimmere Feind der Erkenntnis. Die deutlichste Probe hierfür ist: Sobald die Geschichte sich unserem Jahrhundert und unserer werten Person nähert, finden wir alles viel »interessanter«, während eigentlich nur wir »interessierter« sind.
Dazu kommt das Dunkel der Zukunft in den Schicksalen der Einzelnen und des Ganzen, in welches Dunkel wir dennoch beständig die Blicke richten und in welches die zahllosen Fäden der Vergangenheit hineinreichen, deutlich und für unsere Ahnung evident, aber ohne dass wir sie verfolgen können.
Wenn die Geschichte uns irgendwie das große und schwere Rätsel des Lebens auch nur geringstenteils soll lösen helfen, so müssen wir wieder aus den Regionen des individuellen und zeitlichen Bangens zurück in eine Gegend, wo unser Blick nicht sofort egoistisch getrübt ist. Vielleicht ergibt sich aus der ruhigeren Betrachtung aus größerer Ferne ein Anfang der wahren Sachlage unseres Erdentreibens, und glücklicherweise sind in der Geschichte des Altertums einige Beispiele erhalten, wo wir das Werden, Blühen und Vergehen nach Hauptvorgängen und geistigen, politischen und ökonomischen Zuständen jeder Richtung bis auf einen hohen Grad verfolgen können, vor allem die Geschichte von Athen.
Besonders