Weltgeschichtliche Betrachtungen. Jacob Burckhardt
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Es schadet nichts, wenn der Anfänger das Allgemeine auch wohl für ein Besonderes, das Sich-von-selbst-Verstehende für etwas Charakteristisches, das Individuelle für ein Allgemeines hält; alles korrigiert sich bei weiterem Studium, ja schon das Hinzuziehen einer zweiten Quelle erlaubt ihm durch Vergleichung des Ähnlichen und des Kontrastierenden bereits Schlüsse, die ihm zwanzig Folianten nicht reichlicher gewähren.
Aber man muss suchen und finden wollen, und bisogna saper leggere (De Boni). Man muss glauben, dass in allem Schutt Edelsteine der Erkenntnis vergraben liegen, sei es von allgemeinem Wert, sei es von individuellem für uns; eine einzelne Zeile in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, dass uns ein Licht aufgehe, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend ist.
Und nun hat die Quelle gegenüber der Bearbeitung ihre ewigen Vorzüge.
Vor allem gibt sie das Faktum rein, so dass wir erst erkennen müssen, was daraus zu ziehen sei, während die Bearbeitung uns letztere Aufgabe schon vorwegnimmt und das Faktum schon verwertet wiedergibt, d. h. eingefügt in einen fremden und oft falschen Zusammenhang.
Die Quelle gibt ferner das Faktum in einer Form, die seinem Ursprung oder Urheber noch nahe, ja etwa dessen Werk ist. In ihrer originalen Diktion liegt ihre Schwierigkeit, aber auch ihr Reiz und ein großer Teil ihres allen Bearbeitungen überlegenen Wertes. Auch hier mögen wir wieder der Bedeutung der Originalsprachen und ihrer Kenntnis gegenüber den Übersetzungen gedenken.
Auch geht unser Geist die richtige chemische Verbindung nur mit der Originalquelle in vollständigem Sinne ein, wobei freilich zu konstatieren ist, dass das Wort »original« eine relative Bedeutung hat, indem, wo jene verloren ist, auch sekundäre und tertiäre ihre Stelle vertreten können. Die Quellen aber, zumal solche, die von großen Männern herrühren, sind unerschöpflich, so dass jeder die tausendmal ausgebeuteten Bücher wieder lesen muss, weil sie jedem Leser und jedem Jahrhundert ein besonderes Antlitz weisen und auch jeder Altersstufe des Einzelnen. Es kann sein, dass im Thukydides z. B. eine Tatsache ersten Ranges liegt, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird.
Vollends ändert sich das Bild, welches vergangene Kunst und Poesie erwecken, unaufhörlich. Sophokles könnte auf die, welche jetzt geboren werden, schon wesentlich anders wirken als auf uns. Es ist dies auch gar kein Unglück, sondern nur eine Folge des beständig lebendigen Verkehrs. Wenn wir uns um die Quellen aber richtig bemühen, so winken uns als Preis auch die bedeutenden Augenblicke und vorherbestimmten Stunden, da uns aus dem vielleicht längst zu Gebote Stehenden und vermeintlich längst Bekannten eine plötzliche Intuition aufgeht.
Nun aber die schwierige Frage: Was soll der Nichthistoriker aus den ausgewählten Quellen notieren und exzerpieren? Den materiellen Sachinhalt haben zahllose Handbücher längst ausgebeutet; nimmt er diesen heraus, so türmen sich Exzerpte auf, die er nachher wohl nie mehr ansieht. Und ein spezielles Ziel hat der Leser ja noch nicht.
Es kann sich ihm aber eines ergeben, wenn er sich ansehnlich weit und noch ohne zu schreiben in seinen Autor hineingelesen hat; dann beginne er frisch von vorn und notiere nach jenem einzelnen Ziele hin, lege aber eine zweite Reihe von Notizen über alles dasjenige an, was ihm überhaupt besonders merkwürdig vorkommt, und wären es nur die Kapitelangaben respektive die Seitenzahlen mit zwei Worten in Betreff des Inhaltes.
Über der Arbeit ergibt sich dann vielleicht ein zweites und drittes Ziel; Parallelen und Kontraste mit anderen Quellen finden sich hinzu usw.
Freilich »mit alledem wird ja lauter Dilettantismus gepflanzt, welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus sich andere löblicherweise eine Qual machen!«
Das Wort ist von den Künsten her im Verruf, wo man freilich entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muss, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen.
In den Wissenschaften dagegen kann man nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein. Soll man aber nicht die Fähigkeit der allgemeinen Übersicht, ja die Würdigung derselben einbüßen, so sei man noch an möglichst vielen anderen Stellen Dilettant, wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntnis und Bereicherung an Gesichtspunkten; sonst bleibt man in allem, was über die Spezialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im Ganzen ein roher Geselle.
Dem Dilettanten aber, weil er die Dinge liebt, wird es vielleicht im Lauf seines Lebens möglich werden, sich auch noch an verschiedenen Stellen wahrhaft zu vertiefen.
4. Natur und Geschichte
Endlich gehört hierher auch noch ein Wort über unser Verhältnis zu den Naturwissenschaften und der Mathematik als unseren einzigen uneigennützigen Kameraden, während Theologie und Jus uns meistern oder doch als Arsenal benützen wollen und die Philosophie, welche über allen stehen will, eigentlich bei allen hospitiert.
Ob das Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften ihrerseits alle geschichtliche Betrachtung schlechterdings ausschließe, fragen wir dabei nicht. Jedenfalls sollte sich die Geschichte des Geistes nicht von diesen Fächern ausschließen lassen.
Eine der riesigsten Tatsachen dieser Geschichte des Geistes war die Entstehung der Mathematik. Wir fragen uns, ob sich von den Dingen zuerst Zahlen oder Linien oder Flächen loslösten. Und wie schloss sich bei den einzelnen Völkern der nötige Konsensus hierüber? Welches war der Moment dieser Kristallisation?
Und die Naturwissenschaften, wann und wie lösten sie zuerst den Geist von der Furcht vor der Natur und ihrer Anbetung, von der Naturmagie? Wann und wo wurden sie zuerst annähernd ein freies Ziel des Geistes?
Freilich hatten auch sie ihre Wandlungen, ihren zeitweiligen Dienst und ihre systematische Beschränkung und gefährliche Heiligung innerhalb bestimmter Grenzen – bei Priestern.
Aufs Schmerzlichste ist die Unmöglichkeit einer geistigen Entwicklungsgeschichte Ägyptens zu beklagen, die man höchstens in hypothetischer Form, etwa als Roman, geben könnte.
Bei den Griechen kamen dann für die Naturwissenschaften die Zeiten der völligen Freiheit; nur taten sie relativ wenig dafür, weil Staat, Spekulation und plastischer Kunsttrieb die Kräfte vorwegnahmen.
Auf die alexandrinische, römische und byzantinisch-arabische Zeit folgt dann das okzidentalische Mittelalter und die Dienstbarkeit der Naturwissenschaften unter der Scholastik, welche nur das Anerkannte stützt.
Aber für die Zeit seit dem 16. Jahrhundert sind sie einer der wichtigsten Gradmesser des Genius der Zeiten. Was sie etwa retardiert, sind sehr häufig die Academici und Professoren.
Ihr Vorwiegen und ihre Popularisierung im 19. Jahrhundert ist ein Faktum, bei dem wir uns unwillkürlich fragen, worauf es hinauswühle, und wie es sich mit dem Schicksal unserer Zeit verflechte.
Und nun besteht zwischen ihnen und der Geschichte nicht nur deshalb Freundschaft, weil sie, wie gesagt, allein nichts von ihr verlangen, sondern weil diese beiden Wissenschaften allein ein objektives, absichtsloses Mitleben in den Dingen haben können.
Die Geschichte ist aber etwas anderes als die Natur, ihr Schaffen und Entstehen- und Untergehenlassen ist ein anderes.
Die Natur bietet die höchste Vollendung des Organismus der Spezies und die größte Gleichgültigkeit gegen das Individuum, ja sie statuiert feindliche, kämpfende Organismen, die bei annähernd gleich hoher organischer Vollendung einander ausrotten, miteinander ums Dasein kämpfen. Auch die Menschengeschlechter im Naturzustand gehören