Brüder und Schwestern. Karl König
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Wenn auch Königs Autobiographie nur ein Fragment geblieben ist, seinen Tagebüchern vertraute er bereits als Jugendlicher viel an. Bis zu seinem Lebensende behielt er diese Übung bei, schilderte darin nicht nur äußere Tatsachen, sondern auch innere Stimmungen und Seelenzustände, Reflexionen über die «Rätsel meiner Existenz». Es finden sich Notizen wie «Das Leid der Welt ist in mir» und «Zu Leid, Arbeit und Schaffen bin ich erkoren. Ich bin ein Mensch». Vieles davon ist bislang noch unveröffentlicht. Erfreulich ist, dass sich das, unter anderem im Rahmen der Werkausgabe, zu ändern beginnt und die Quellen für eine objektive König-Forschung zugänglich gemacht werden.
Die Erfahrungen der frühen und späteren Kindheit prägen den Verhaltensstil des erwachsenen Menschen. Dies trifft auch auf Karl König zu. Anke Weihs’ Beitrag «Leben mit Karl König» fasst das, was ansonsten punktuell in den verschiedenen Erinnerungen auftaucht, anschaulich zusammen. Sie, die zum engsten Kreis der Gründerinnen und Gründer gehörte, der Gruppe, die sich bereits in Wien um König scharte, erlebt seine Stärken und Schwächen unmittelbar. Ihr Bild beschreibt den ganzen König, einen Menschen, der streng, anspruchsvoll und oft ungeduldig war, der sehr zornig werden konnte, der pedantisch Ordnung hielt und sie auch von anderen erwartete, der konkrete Vorstellungen hatte, wie eine Arbeit erledigt werden sollte, der den «roten Teppich» liebte, dem es schwerfiel zu verzeihen, der kein Erbarmen kannte, «wenn menschliche Beziehungen in Unordnung gerieten oder Motive verwechselt wurden» (Weihs 2008, S. 162). Aber angesichts der Größe und Energie dieses kleinwüchsigen Mannes relativiert sich all das (ebd., S. 172 f.):
Als persönlicher Ratgeber in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners war Dr. König geduldig, verständnisvoll, aufmunternd, solange sein Gesprächspartner sich ernsthaft bemühte. Er konnte aber beinahe erbarmungslos werden, wenn er den Eindruck bekam, man spiele nur oder wäre der Falschheit verfallen. Sein Zorn hatte die gleiche eigenartige Wirkung, wie seine anderen Charakterzüge: Man fand zu sich selbst zurück, er half einem, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen … Ich habe den Eindruck, dass er in diesem Leben eine Portion ‹Göttlichen Zorns› zugeteilt bekommen hatte, um ihn für die Verwandlung anderer Menschen zur Verfügung stellen zu können.
Und freilich, nicht alle haben diesen absoluten und gebieterischen König ausgehalten. Aber, das zählt letztlich, er hat unerschöpflich mit sich gerungen, um «den Löwen in ein Lamm zu verwandeln» (ebd., S. 174).
Auch in der breit angelegten Biographie von Hans Müller-Wiedemann erfährt man merkwürdig wenig und nur andeutungsweise etwas über die familiäre Situation von Karl und Tilla König, die als Mathilde Maßberg als viertes von sieben Kindern zur Welt kam. Der Verbindung, 1929 geschlossen, entstammen vier Kinder. Man kann als Leser nur ahnen, welche Dramatik sich beispielsweise hinter diesem Satz des Biographen verbirgt:
Zunehmend musste Tilla König neben dem immer sich Wandelnden und Voranschreitenden die Liebe des Verzichts üben, aber nie durch all die vielen Prüfungen hindurch ist die Beziehung zu ‹Markus›, wie sie Karl König nannte, abgerissen. Die regelmäßigen Besuche in Botton und die bis zu seinem Tode geführte Korrespondenz mit Tilla legen Zeugnis ab von dem Seelenort, den, im Hintergrund stehend, Tilla für ‹Markus› immer bereithielt, wenn er ihn brauchte (Müller-Wiedemann 2016, S. 404).
Tilla Maßberg, die König bereits in Arlesheim kennenlernte, lud ihn 1928 zu einem Besuch ins schlesische Eulengebirge ein, wo sie mit ihrer Schwester Maria ein kleines heilpädagogisches Institut gegründet hatte. Dort, in Gnadenfrei, einer Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeine, die vom Graf Zinzendorf ins Leben gerufen wurde, schildert König in seinem autobiographischen Fragment eine Situation, die sich tief in meine Seele eingrub und schicksalsbestimmend für mich wurde. Es war ein Unbekanntes, das mich hier ergriff und Saiten zum Schwingen brachte, deren Melodien in meinem Inneren bisher nicht erklungen waren. […] Da lag der große Platz mit den beiden mächtigen Wohngebäuden – dem Brüder- und Schwesterhaus. Dort stand die Kirche; sie war innen ganz hell gehalten, vornehm und still. Ich war zutiefst bewegt von der einfach-feierlichen Atmosphäre, die in diesem Raum waltete. […] Hinter dem Ort lag der Gottesacker … jedes Grab war mit einem Stein bedeckt; keiner war größer als der andere. Im Tode sind alle gleich! Auch hier waltete Ernst und Würde, ohne Pomp und Putz. ‹Ja›, dachte ich, ‹so müsste Leben und Sterben von einer Menschengemeinschaft geführt werden.› Die freudige Erschütterung, einem bedeutsamen Ereignis begegnet zu sein, durchdrang mich vollends. Selten hatte mich vorher ein Ort und seine Atmosphäre so unmittelbar ergriffen (König 2008a, S. 122 f.).
Merkwürdig, so denkt sich der zugewandte Leser unwillkürlich, dass er all das ganz und gar nicht mit seiner Liebe zu Tilla Maßberg in Verbindung bringt, die er ein Jahr später heiratet.
Letztlich, so empfindet man, beschreibt König in diesem Abschnitt das, was er, der Heimatlose, ein Leben lang unter großen Mühen sowohl für sich als auch für andere suchte und schließlich auch geschaffen hat: die Entwicklung einer «wahren Gemeinschaft». Sie gehört zu den Grundpfeilern von Camphill. Ein Ort, eine Heimat, eine Gemeinschaft von Menschen, die sich in einem anderen, höheren Sinne als Brüder und Schwestern begreifen. Oder, wie es König in dem Vortrag «Staunen, Mitleid und Gewissen – die neuen Kleider Christi» ausdrückte:
Ich bin ein Mensch nur wenn ich unter Menschen bin. Allein bin ich ein Nichts, kann ich kein Mensch sein (König 2009, S. 97).
VIII.
Ja, es gibt Bücher, die Menschen eine lange Spanne des Lebens begleiten. Ganz individuelle Klassiker, deren man nicht überdrüssig wird. Die man von Zeit zu Zeit durchblättert, hineinliest, wieder weglegt, und dann, irgendwann, wieder zur Hand nimmt. Manche von ihnen sagen einem, dass sich die Mühen des Lebens immer noch lohnen. Manche tragen und entspannen einen mit ihrem langen Atem. Wiederum andere Bücher können einem helfen, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Zu ihnen gehört Königs Brüder und Schwestern. Von ihm geht, trotz des sachlichen Impetus, eine Art Poesie aus, die etwas Stilles und Wahres ausstrahlt.
Alfons Limbrunner wurde 1944 geboren und lehrte Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule für Sozialwissenschaften in Nürnberg. Seine Erfahrungen im Bereich der Sozialen Arbeit bildeten die Basis für zahlreiche Veröffentlichungen als Zeitschriften- und Buchautor. Daneben war er Mitherausgeber der Karl König Werkausgabe. Ein Jahr vor seinem Tod 2017 erschien 2016 im Verlag Freies Geistesleben seine vorletzte Publikation; eine Hommage an die von Karl König ins Leben gerufene Camphill-Bewegung, die bis heute weltweit wirksam ist: Die Wanderer ins Morgenrot – Karl König, Camphill und spirituelle Gemeinschaft.
Brüder und Schwestern
von Karl König
Einleitung
Das Thema, das hier behandelt wird, hat immer wieder die Aufmerksamkeit bedeutender Denker und Beobachter der Menschennatur erregt. Denn die Frage, welche Bedeutung die Geburtenfolge für den Charakter und das Verhalten des einzelnen Menschen hat, ist nicht neu. Verschiedenste Versuche wurden gemacht, eine Antwort auf dieses Problem zu finden; bisher aber konnte keine eindeutige Lösung vorgelegt werden.
Das hing wohl vor allem daran, dass man die Antwort auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte da an Unterschiede der Intelligenz, der Initiative, des emotionellen Verhaltens und ähnliche individuelle Charakterverschiedenheiten. In diesen Bereichen aber konnten keine nennenswerten Variationen im Rahmen der Geburtenfolge entdeckt werden. Weder Intelligenz noch Charakter sind zwischen erst-, zweit- und drittgeborenen Kindern so verschieden, dass man von deutlichen Divergenzen sprechen könnte.
Niemand aber versuchte es bisher, das soziale Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe