Brüder und Schwestern. Karl König

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Brüder und Schwestern - Karl König

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Präsident zu werden, kam im Krieg bei einem Fliegereinsatz um. Der zweite Bruder musste nachrücken; er war eigentlich ein Künstler; ein mutiger, frischer, unabhängiger Mensch, der nun die Schuhe der Erstgeburt anziehen musste. Er tat dies mit völliger Hingabe und erreichte das Ziel, das seinem älteren Bruder versagt war. Eine ähnliche Schicksalsfigur waltete beim vierten und fünften Kind der gleichen Familie. Denn die Schwester Kathleen kam – als verwitwete Herzogin von Devonshire – bei einem Flugzeugunglück um. Nun musste die fünfte, Eunice, an ihre Stelle treten. Sie ist die Frau von Sargent Shriver, dem gegenwärtigen Leiter des amerikanischen Friedens-Korps. Sie aber organisiert die ausgedehnte Hilfe, die heute in USA zurückgebliebenen Kindern und Erwachsenen gegeben wird.

      Überhaupt sind die Schicksale der neun Kennedy-Geschwister ein erstaunliches und sprechendes Beispiel für die in den folgenden Aufsätzen beschriebenen Regeln der Geschwisterreihe.

      Beginnt man dafür einen Blick zu entwickeln, dann eröffnen sich ganz neue Seiten für das Verständnis menschlichen Verhaltens. Was hier dargestellt wird, ist ein Anfang und kann deshalb keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit machen. Allerdings wird eine Tür geöffnet, deren Vorhandensein bisher noch kaum bemerkt wurde. Nimmt man sie wahr und versucht man ihren Schlüssel zu erwerben, um sie aufzuschließen, dann führt sie in die drei Säle des ersten, zweiten und dritten Kindes. In diesen drei Räumen findet man die vielgestaltigen Zeichen und Embleme, die den Kindern mit in ihre Wiegen gelegt werden.

      Ein Erstgeborener verhält sich anders als ein Zweiter oder gar ein Dritter. Denn der Erste ist durch seine Erstgeburt ein traditionsgebundener Mensch; ob er es will oder nicht – ob es seinem Temperament und seiner Lebensart entspricht oder nicht –, er ist vom Schicksal dazu gezwungen und geführt, ein Wahrer und Bewahrer, ein Mehrer und Behüter zu sein.

      Der Zweite aber ist ein In-sich-Ruhender; ein Freier, Ungebundener und Streifender. Die ganze Erde ist sein Eigen; nicht zum Besitz, sondern zur Freude. Nicht zum Ziel, sondern zur seligen Lust.

      Der Dritte ist der Seltsame und Fremde. Der Zweite kehrt gerne nach Hause zurück; nicht so der Dritte. Er bleibt ein Eigener, In-sich-Abgeschlossener, nach kaum erreichbaren Zielen Strebender. Die Großen unter ihnen werden Feldherren und Päpste. Johannes XXIII. zum Beispiel war ein neuntes und daher drittes Kind; Feldmarschall Montgomery, der politisierende und eigenwillige Sieger von El Alamein, ist ein Drittgeborener.

      Solche Zusammenhänge zu erkennen, wird in den kommenden Jahrzehnten von größter Bedeutung sein. Denn die alten Formen der Familie sind im Umbau begriffen. Die Großfamilien sind in Auflösung, und die Kleinfamilien, die nur mehr aus Eltern und Kindern bestehen, versuchen ihre neuen Gesetzmäßigkeiten zu finden. Dazu aber wird es gehören, die besonderen sozialen Verhaltensweisen innerhalb der Geschwisterreihe zu verstehen, um den Kindern und heranwachsenden Jugendlichen besser gerecht werden zu können, als das bisher noch der Fall ist.

      So möchten die hier herausgearbeiteten Regeln sozialen Verhaltens für Eltern und Lehrer, für Sozialarbeiter und Fürsorger, für Ärzte und Seelsorger eine Hilfe sein, den ihnen zu «Führung und Geleit» Anvertrauten mit neuem Verständnis zu begegnen. Nicht psychologische Beurteilung ist hilfreich, sondern menschliches Verstehen und Mitgefühl. Nicht der Test in vielerlei Gestalt begreift den anderen Menschen, sondern das Eingehen auf sein Schicksal und die Art, ob und wie er es zu bewältigen vermag. Denn solche Einsicht allein erweckt Liebe und Mitleid. Die Liebe aber «ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, treibt nicht Mutwillen, blähet sich nicht …» Alles aber, was der psychologische und psychologisierende Test treibt, ist das Gegenteil der Liebe, weil sich dabei ein Mensch zum beurteilenden Richter anderer erhebt. Das macht ihn zum Eiferer, zum Mutwilligen und bläht ihn auf.

      Hier aber geht es um Mit-Empfinden, Mit-Erleiden und Mit-Verstehen. Nicht katalogisierende Schematik wird gegeben, sondern der Anblick eines höheren Auftrags, unter dem wir alle stehen und den wir nur erfassen können, wenn wir ihn mit ertragen und erleiden wollen. Denn nicht der Test, nicht das Experiment und nicht die Analyse, sondern der ganze, ungeteilte Mensch «ist das Maß aller Dinge».

      Brachenreuthe, am 5. Mai 1964

       Dr. Karl König

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