Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets. Mark Kingwell
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Mark Kingwell
Ich wünschte, ich wäre hier
Langeweile im Zeitalter des Internets
Aus dem Englischen von
Andreas Simon dos Santos
Mark Kingwell, geb. 1963, ist Professor für Philosophie an der University of Toronto. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Sozialtheorie, Politischer Philosophie, Ästhetik und Popkultur. Er ist Mitglied der Royal Society of Canada und wurde mehrfach für seine wissenschaftliche Arbeit und Lehre ausgezeichnet. Seine zahlreichen Essays und Artikel erscheinen u. a. im Harper’s Magazin und seine Monografien wurden in zehn Sprachen übersetzt, darunter Better Living (1998), The World We Want (2000). Auf Deutsch erschien zuletzt Nach der Arbeit (2018).
Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter.
»Es hilft nichts: Die Langeweile ist nicht einfach. Wir entgehen der Langeweile (bei einer Arbeit, einem Text) nicht mit einer Geste der Ungeduld oder Ablehnung. So wie die Lust am Text eine ganze indirekte Produktion voraussetzt, so kann die Langeweile keine wie immer geartete Spontaneität beanspruchen: Es gibt keine ehrliche Langeweile: Wenn der geschwätzige Text mich persönlich langweilt, dann weil ich in Wirklichkeit die Anforderung nicht mag. Doch was, wenn ich sie mögen würde (wenn ich irgendeinen mütterlichen Appetit darauf hätte)? Die Langeweile ist nicht weit von Glückseligkeit entfernt: Sie ist Glückseligkeit gesehen von der Küste der Lust.«
Roland Barthes, Die Lust am Text (1973)
Inhalt
Langeweile in Zeiten der Plage
Vorbemerkung:
Langeweile in Zeiten der Plage
Anfang 2020 gewöhnten wir uns alle an die neue Normalität von Covid-19, an das Abstandhalten, an Selbstisolation und Quarantäne. Inmitten des Ausnahmezustands stellte sich bei vielen neben großen Befürchtungen ein Gefühl beharrlicher, quälender Langeweile ein. Die allgemeine Sorge zog sich über das Frühjahr bis in den Sommer, und man begann sich zu fragen, ob die staatliche Seuchenbekämpfung die Bürgerrechte noch stärker mit Füßen treten würde, aber auch, ob das Virus zurückkehren würde und ob man – inmitten zunehmender Gereiztheit und Unruhe – gar selbst bereits erkrankt war oder nur in einen Zustand der Apathie verfallen war.
Bald war man es leid, von »Abflachung der Kurve«, »Eindämmung des Virus« und von Forderungen nach Ausweitung der staatlichen Maßnahmen zu hören. In den Städten sah man vor dem Fenster leere, leblose Straßen. Gassigänger, Flaschensammler und radelnde Essenslieferanten waren die einzigen Zeichen menschlichen Lebens. Sind Sie in ihrem Zimmer auf und ab gegangen und haben sich gefragt, ob es möglich ist, sich zu Tode zu langweilen? Ja, ist es.
Der verwegene Schauspieler George Sanders, am besten bekannt als zynischer Theaterkritiker Addison DeWitt in Alles über Eva (1950), hinterließ drei Abschiedsbriefe. In einem stand: »Liebe Welt, ich verlasse Dich, weil ich mich langweile. Ich habe das Gefühl, lange genug gelebt zu haben. Ich überlasse Euch in dieser süßlichen Kloake Euren Sorgen. Viel Glück.« Auf Dreharbeiten in Spanien, beendete der 65-Jährige sein Leben mit Pentobarbital.
Das war im April 1972 – der »grausamste Monat«, wie es T. S. Eliot, ein gelangweilter Bankangestellter, in seinem Gedicht Das Ödland schrieb. Heute, im April 2020, offenbart die Viruskrise die sozio-ökonomischen Bruchkanten in unseren Gesellschaften mit voller Brutalität. Kleinselbständige, die von Mini-Aufträgen aus dem Netz leben, stehen vielerorts vor dem finanziellen Abgrund, in Ländern ohne Kurzarbeitergeld wurden viele Arbeitnehmer kurzerhand auf die Straße gesetzt oder man griff trotz Verbots zu befristeten Entlassungen. Beschäftigte im Gesundheitswesen arbeiteten bis zur Erschöpfung, während Dienstpersonal, Fluglinienangestellte und Kulturschaffende um die nackte Existenz bangten – um nur ein paar Berufe zu nennen. Wie wir nun häufig gehört haben, könnte sich die Wirtschaftskrise als weit schlimmer erweisen als die Große Depression.
Und so gerieten wir in ein Wechselbad der Gefühle, Phasen lähmender Angst und bleierner Apathie wechselten mit einer eigentümlich fiebrigen Nervosität, eine der quälendsten Erscheinungsformen der Langeweile. Manchmal kommt es einem vor wie der »lange, dunkle Fünfuhrtee der Seele«, wie der englische Science-Fiction-Kultautor Douglas Adams scherzhaft die Langeweile der Unsterblichkeit nannte. Zu anderen Zeiten ist es eine stille, innere Rage, in der alles in Gang kommt, aber nichts beginnt – eine Seele, die sich selbst zerfleischt.
Vor zweihundert Jahren bezeichnete der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer mit scharfem Blick die Langeweile als einen besonderen Zustand der modernen Welt. Er meinte damit natürlich nicht, dass sich Menschen vor dem – in Europa – relativ wohlhabenden frühen 19. Jahrhundert nie gelangweilt hätten. Was ihm auffiel, waren vielmehr neue Möglichkeitsbedingungen von Langeweile: In Zeiten sicherer Unterkünfte, ausreichender Nahrung, freier Zeit, kultureller Anregung (oder ihrem Mangel) hatten die Menschen die Muße, sich mit der eigenen Identität in einem gleichgültigen Universum auseinanderzusetzen.
Für einen großen Teil der Welt haben Konsum und die Kräfte des freien Marktes um ihn herum eine Situation der Monetarisierung dessen geschaffen, was ich im Weiteren neoliberale Langeweile