Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets. Mark Kingwell

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Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets - Mark  Kingwell

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Wann immer unmittelbare Stimulation versagt, erwacht ein neues unmittelbares Verlangen, das sich nur temporär durch neue Stimulierung lindern lässt. Scrollen, Twittern, Shoppen, Liken und Posten wirken in Kombination wie eine Versklavung des Bewusstseins. Diese Erfahrung kapitalistisch ausgebeuteter temporärer Langeweile ist eine Form der Abhängigkeit und zugleich ein Luxusgut, wie es Thorstein Veblen in seiner Analyse des demonstrativen Oberschichtkonsums in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb. Heute betrifft der kritische, nicht mehr ganz so demonstrative Konsum Videospiele, Streaming-Dienste und die Nutzung der sozialen Netzwerke.

      Langeweile offenbart eine Art psychischen Konflikt, wo, wie es der Psychotherapeut Adam Phillips ausdrückt, der »paradoxeste Wunsch sich regt, der Wunsch nach einem Begehren«. Ein abwesender Wunsch erster Ordnung (»Ich habe nichts, was ich tun möchte«) wird mit einem Wunsch zweiter Ordnung beklagt (»Ich wünschte wirklich, ich wüsste es«). Daher rührt die seltsame Unruhe und Beklemmung der Langeweile, ein Juckreiz an Stellen, wo man sich nicht kratzen kann. Jeder Wunsch erster Ordnung, so sehr er auch aus kognitivem Junkfood bestehen mag, scheint den Reiz zu beruhigen, aber nur zeitweilig – Kartoffelchips für die Seele.

      So zeichnet, wie Schopenhauer schrieb, die Langeweile »zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht«. Man denke an einen Lebenslänglichen, an Soldaten, die zur Eile angetrieben werden, nur um am Bestimmungsort wieder warten zu müssen, an einen unheilbar Schlaflosen, einen Teenager auf einem erzwungenen Familienausflug oder einen durch und durch fremdbestimmten Arbeiter. Sie alle erleben wahre Langeweile. Selbst die Glücklichsten unter uns kennen in ihren Berufen sicher Phasen, in denen sie nichts als öde Langeweile erwartet.

      In diesen viralen Zeiten, wo die Arbeit, wo unsere Zwecke und sogar unsere Bewegungsfreiheit umfassend überdacht werden, ist Langeweile zu einem schleichenden Feind geworden. Und doch, sie bleibt auch eine Art von Sahnehäubchen, ein Ausweis sozioökonomischer Privilegiertheit, die Klage der Gesunden und Reichen, wenngleich nicht der Weisen. Das ist das Paradox des paradoxen Verlangens nach einem Verlangen: Es ist ein Zeichen von Erregung und gleichzeitig ihrer Abwesenheit. Es kann einen anöden, gelangweilt zu sein, und so erzeugt man eine Spirale der Aufmerksamkeitsökonomie.

      Wenn wir darauf reagieren, indem wir einem Gefühl der Einsamkeit oder des Ennuis, der Acedia oder des Weltschmerzes ewig davonlaufen, bereiten wir nur einem neuen psychischen Konflikt den Weg – einem neuen Markt der Möglichkeiten. Wenn die gegenwärtige Langeweile nicht zu philosophischer Reflexion, sondern stattdessen zu neuen Formen und Momenten des Konsums führt, wäre das zugleich eine verpasste Gelegenheit und eine Kapitulation vor den gegenwärtigen Verhältnissen.

      Wenn Sie das Glück haben, sich gerade zu langweilen, und nicht einfach nur abstrampeln, um über die Runden zu kommen, geben Sie sich nicht der Melancholie hin oder fliehen in einen schicken neuen Stimulus. Schauen Sie aus dem Fenster, das selbst ein Fenster zur Seele ist. Nehmen Sie die Bürde, auf der Welt zu sein, an. Sie können sich selbst nicht entkommen, aber Sie können die Bedingungen Ihrer eigenen Möglichkeit untersuchen.

      Um ein weiteres Genie der existenziellen Langeweile, Samuel Beckett, zu zitieren: »Ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen.« Es gibt keine andere Option – nicht einmal, bei allem gebotenen Respekt für George Sanders, der Selbstmord, den Shakespeares Hamlet ins Auge fasst. Noch einmal Beckett: »Du bist auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel.« Langeweile ist keine Krankheit, sondern ein aufschlussreiches Symptom in Zeiten der Corona-Krise.

       Vorwort

      »Vielleicht ist ein Schuss Langeweile ein notwendiger Bestandteil des Lebens.«

      Bertrand Russell, Die Eroberung des Glücks (1930)

      1999 landete der britische Künstler Martin Parr einen überraschenden Bestseller, der seinen Weg auf zahllose Wohnzimmertische fand. Boring Postcards lieferte genau das, was der Titel versprach: einen dicken Band mit 160 Bildern aus Parrs privater Sammlung der ödesten Ansichten und Sehensunwürdigkeiten des britischen Lebens. Reizlose Bahnhöfe, Fabrikgebäude mit Backsteinfassaden, leere Interieurs, Motelzimmer, Hotelfoyers, langweilige Postämter und triste Autobahnabschnitte, sie alle gaben sich bei dieser unheimlichen Feier der Fadheit und Banalität ein Stelldichein. Viele Menschen fanden das Buch lustig, manche auch traurig. Niemand schien es im Geringsten langweilig zu finden – ganz im Gegenteil.

      Und doch zeigen die Bilder zwischen den Buchdeckeln natürlich wirklich trübsinnige Orte und nichtssagende Bauwerke, wie nützlich sie auch immer sein mochten zur Erfüllung alltäglicher Zwecke. Mir erging es mit dem Buch wie vielen anderen: Ich fand es zugleich aufschlussreich und vertraut. Wie andere Objets trouvés, das heißt ästhetisch umgewidmete Alltagsgegenstände, bot es das, was Arthur Danto die »Verklärung des Gewöhnlichen« nannte. Wir erkennen hier die Banalität eines so großen Teils unserer baulichen Umgebung und zugleich die Schmerzlichkeit unseres Bedürfnisses nach Verbindung und Austausch. Warum wohl sollte jemand, fragt man sich unwillkürlich, einen Parkplatz oder einen Mautposten zum Gegenstand einer Ansichtskarte machen? An manchen der Orte sind Menschen zu sehen, aber viele sind bar jeden Lebens, wie von einer Neutronenbombe entmenschte Szenerien leerer Alltäglichkeit. Sie illustrieren die Eintönigkeit des täglichen Lebens selbst dort noch, wo sie mit der modischen Vorstellung von »Alltagsfotografie« kokettieren – triviale Bilder, die, in einen anderen Kontext gesetzt, schlaglichtartig eine gewöhnliche, aber tiefe Sehnsucht zum Ausdruck bringen.1 Parr fügte keinen Kommentar oder eine Theorie hinzu, sondern ließ die Bilder schlicht für sich selbst sprechen.

      Als Parr 2000 und 2001 einen Band mit amerikanischen und deutschen Postkarten folgen ließ (Boring Postcards USA und Langweilige Postkarten 2), erklomm das Projekt neue Höhen. Nun gesellten sich noch klotzigere Autobahnen, Mauthäuschen, Flughäfen, Grenzübergänge, Wohntürme, leere Swimmingpools und Vorstadtparzellen zum Aufgebot eintöniger Umgebungen. Blättert man durch diese Bücher, besonders Boring Postcards USA, wirken sie wie eine Bebilderung der Autofahrten durch die amerikanische Provinz, auf die sich Humbert Humbert in Nabokovs Roman Lolita begibt, ein unwirtlicher Katalog neonerleuchteter Schnellrestaurants, Lebensmittelfilialen, Imbissständen, Tankstellen und Motels, der zu einer Polemik gegen das Nachkriegs-Amerika mit seiner geistlosen, entnervenden Prosperität anschwillt. Parr indes enthält sich stets solcher Wertungen. Wieder vermittelt diese Sammlung eine feierliche Stimmung, in die sich doch Traurigkeit mischt. Verlebe tolle Tage, wünschte, Du wärst hier! Nein, wirklich: Ich wünschte, Du wärst hier, denn hier ohne Dich bin ich weniger ich selbst.

      Postkarten begleiten uns seit Langem, doch selten schlug die Welle ihrer Beliebtheit so hoch wie vor hundert Jahren, als es der letzte Schrei war, Freunden und den Daheimgebliebenen lithografierte Postkarten von den Orten zu schicken, die man bereist hatte. Eines meiner Lieblingsstücke solcher Ephemera ist eine Postkarte des Woolworth-Hauses in New York (1912), die mir vor einigen Jahren in einer Scheune in New Hampshire in die Hände fiel. Eine mit Federhalter gezeichnete Wellenlinie markiert die Spitze des hoch aufragenden Gebäudes. »Bin letzten Winter da oben gewesen«, werden die Lieben daheim auf der Farm informiert. Selbst die Farben früher Bildpostkarten werden zu einer vertrauten Palette blasser Töne von Comicheft-Qualität, so sehr, dass spätere Ansichtskarten aus den 1970er-Jahren mit ihrer Hochglanzoptik unangebracht und irgendwie falsch wirken. Während die Leute Millionen von Groschenpostkarten verschickten, bot sich Amateuren mit preisgünstigen tragbaren Fotoausrüstungen die Möglichkeit, »Echt-Photos« zu schießen und die Ergebnisse in Kleinauflage mit einer Liebhabergemeinde zu teilen: Instagram für das Industriezeitalter. Millionen von Postkarten, viele davon so strahlend langweilig wie alles aus Parrs Sammlung, wurden zwischen 1905 und 1912, dem Höhepunkt der Postkartenmode, hergestellt.

      Eine Postkarte ist jedoch nicht nur ein Bild, und das ist einer der Gründe, warum ich Postkarten als visuelle Begleitung des folgenden Textes verwende. Sie erzählen eine Geschichte des Ichs auf der Suche nach sich selbst. Postkarten sind Elemente innerhalb großer

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