Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets. Mark Kingwell

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Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets - Mark  Kingwell

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Urlaub und von Familie, Freunden und Mitarbeitern. Das Bild ist eigentlich nur der Anlass oder der Träger, um ein persönliches Signal zu geben, ein winziger Knoten innerhalb des weiten Netzes kollektiven und kommunikativen Handelns. Ebenso ist die Botschaft auf der Rückseite nachrangig gegenüber der Tatsache, dass die Postkarte überhaupt geschickt wird. Wer schon einmal einen sonntäglichen Flohmarkt durchstöbert hat, dem ist vielleicht aufgefallen, dass viele alte Postkarten überhaupt keine schriftliche Botschaft trugen, sondern nur eine Adresse. Die gesuchte Verbindung war die eigentliche Fracht.

      Dies ist ein Buch über unsere Suche nach solchen Verbindungen und die Gefahren und Chancen, die in diesem Netz des Begehrens enthalten sind. Die langweilige Postkarte bietet mehrere bedeutsame Einsichten. Die erste ist, dass die langweilige Postkarte gar nicht langweilig ist. Es gibt hier eine Dynamik, in der wir zuerst das triste oder nichtssagende Bild registrieren und es irgendwie unglaublich finden, um uns dann zu einer Würdigung des Bildes zu bewegen, die das Gegenteil von langweilig ist und, wie wir ebenso sagen könnten, das Gegenteil der Nostalgie, die häufig von alten Briefen geweckt wird. Dann ist da ein sich anschließender Moment der ironischen Dopplung, der die beiden vorangehenden Ideen in herrlicher Spannung hält. Lustig? Ja. Traurig? Auch das. Faszinierend? Unbedingt. Die langweilige Postkarte gibt uns in visueller Form so etwas wie einen Hinweis darauf, wie Langeweile allgemein funktionieren könnte – oder, um genauer zu sein, wie wir Langeweile auf eine Art und Weise fassen könnten, die philosophisch von Interesse ist. Ein solches Verständnis zu kultivieren ist der Hauptzweck dieses Buches.

      Es gibt hier eine zweite Einsicht darüber, was ich das Interface nenne. Weil wir in einer Welt leben, die von Technologie beherrscht wird, und auch weil sich mein Augenmerk hier auf viele technologische Details richtet, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Schnittstellen ein ausschließliches Merkmal des Computerzeitalters seien. Mehr noch, es gibt eine Tendenz, die Idee des Interface auf eine spezifische Plattform oder ein bestimmtes Programm zu verkürzen. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, sind selbst digitale Benutzerschnittstellen mehr als das: Sie umfassen den Nutzer, die Nutzungserfahrung, sogar die taktilen Elemente der mit bestimmten Programmen verbrachten Zeit (Wischen, Klicken, Daumentippen etc.). Noch weiter gefasst gehören zum Interface soziale, politische und ökonomische Faktoren, die im spätkapitalistischen Leben alle im Spiel sind, von den materiellen Bedingungen und der laufenden Verelendung, die das Gerät in unserer Hand oder auf unserem Schreibtisch ermöglicht hat, bis zu den psychologischen und geistigen Bedingungen, die sich auf die Zeit, die wir mit ihnen verbringen, auswirken.

      In einem noch weiteren Sinne ist das Interface eine geeignete Beschreibung vieler nichttechnischer Elemente der menschlichen Existenz. Ich meine damit einfache Dinge wie Türschwellen, Hauseingänge, Fenster und Durchgangsräume, die wesentlich für die je verschiedene Ausformung des Angebotscharakters (affordance) von Arbeitsstätten und Heimen sind. Ich meine darüber hinaus komplexere Merkmale der Interaktion, der Grenzbereiche und Durchgangswege wie eben Mautstationen, Abflughallen, Parkplätze und Motelzimmer, die in Parrs Katalog der Langeweile eine besondere Rolle spielen. Dies sind Zwischenräume, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, im Schwebezustand auf dem Weg zu etwas, das die Postkarte andeutet, aber nie darstellt. Langeweile hat damit zu tun, aufgehalten zu werden, Frustration zu empfinden darüber, festzustecken, und den heftigen Wunsch zu verspüren, nie wieder in eine solche Sackgasse zu geraten. Die langweilige Postkarte gibt die Szenerie der Langeweile als Wohlergehen selbst wieder, das – zumindest auf den ersten Blick – öde ist.

      Weiter unten werde ich näher auf Heideggers vielbeachtete Erörterung der Langeweile eingehen, die ihn befiel, als er einmal auf einem Bahnhof zum Warten gezwungen war. Heute könnten wir uns genauso gut einen Flughafen vorstellen, mit scheinbar endlosen Phasen der Langeweile, die trotz aller Gegenwehr, kostenlosem WLAN und ablenkenden Einkaufsstraßen irgendwie nie ganz zu lindern sind. Solche Attraktionen verlieren jeden Reiz, weil wir an jenem Ort nur sind, um irgendwo anders hinzureisen. Der Flughafen ist sozusagen der neoliberale Bahnhof der heutigen Zeit. Per Definition eine Zone des Nirgendwo, ein Utopia im wörtlichen Sinn, ist er ein Nicht-Ort, wo nichts geschieht und nichts getan werden kann. Jede Anstrengung ist fruchtlos und die Frustration nie weit entfernt. Der einzige Zweck eines Flughafens besteht darin, ihn hinter sich zu lassen.3 Mit den verstreuten Hotels und Motels des Lebens verhält es sich genauso, jene anonymen, temporären Zimmer, wo wir nur eine Nacht verweilen. Auch diese Räume, häufig deprimierend in ihrer Anonymität und Austauschbarkeit, sind Interfaces. So strukturiert und sogar komfortabel sie sind, stecken wir in ihnen ewig fest, auf dem Weg zu etwas anderem. Postkarten, die von solchen Orten geschickt werden, die solche Orte abbilden, sind besonders trübsinnig, Zwischenräume purer Ödnis.

      Manchmal wird der kurzzeitige Stillstand eines Hotels permanent, so wie im Bates Motel in Alfred Hitchcocks Psycho (1960), wo die weibliche Hauptfigur (Vivien Leigh) auf der Flucht mit der Beute eines Banküberfalls von dem nervös zuckenden, von seiner Mutter besessenen Norman Bates (Anthony Perkins) unter der Dusche erstochen wird.4 Es gibt den einlullenden Song Hotel California, der größte Hit der Eagles (1976) mit seinem rosafarbenen Champagner auf Eis, wo eine reiche Lady seltsamerweise unter der Taucherkrankheit (bends) zu leiden scheint (ein Wortspiel mit Mercedes Benz), ein Etablissement, wo man jederzeit ein- und auschecken kann, und doch – es sei verraten – nie wieder wegkommt. Treffend sprechen die Kritiker sozialer Medien vom eingebauten Hotel-California-Effekt, wenn eine Plattform es durch ihr Schnittstellendesign gezielt erschwert, sie wieder zu verlassen – ein zentraler Kritikpunkt in den folgenden Ausführungen.5

      Den vielleicht lebhaftesten Ausdruck findet dieses Festsitzen an einem Ort in Thomas Manns Der Zauberberg (1924), wo sich der junge Schiffbauingenieur Hans Castorp für drei Tage in ein Nobelsanatorium begibt, um dort schließlich wie gebannt sieben Jahre zu verbringen. Dies, obwohl er gar nicht unter Tuberkulose leidet, jener Krankheit, die in der Heilanstalt mithilfe der sauberen Bergluft kuriert werden soll. Während die Tage und Monate vorbeifliegen, ist Castorp nie ausdrücklich gelangweilt, trotzdem ist sein Leben auf dem Berggipfel angesichts der Sinnlosigkeit seiner behaglichen Indolenz in einem allgemeinen, vagen Sinn irgendwie öde. Warum kann er denn nicht einfach irgendetwas tun? Die Zeit selbst, legt Mann nahe, dehnt sich aus und zieht sich zusammen, je nach unseren Stimmungen und Zuständen. Was sind schließlich schon sieben Jahre? Castorp hat entdeckt, dass ihm der Zwischenraum der vorübergehenden Behausung als dauerhafter Zustand zusagt. Andere Menschen könnten dieselben äußeren Bedingungen in den Wahnsinn treiben.

      Es gibt noch ein weiteres Hotel, wo dauerhafte Klausur zur Gefahr wird, und zwar in Form einer Metapher, deren sich der ungarische Marxist Georg Lukács bediente, um die Abgehobenheit anderer linker Philosophen zu geißeln. »Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen«, schrieb er, »ein – wie ich bei Gelegenheit der Kritik Schopenhauers schrieb – ›schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.‹«6 Während wir uns selbst und anderen vorzugaukeln versuchen, uns in rigoroser Kritik zu üben, verlieren wir uns, so legt Lukács nahe, in selbstzufriedener Bequemlichkeit. Ich persönlich beurteile Adorno milder, doch der Hauptkritikpunkt stimmt. Der Zweck der Philosophie besteht, nach Marx’ berühmtem Ausspruch, darin, die Welt zu verändern, statt einfach neu zu interpretieren.

      Bevor wir mit dem weitermachen, was, wie ich hoffe, ein kleines Beispiel einer solchen Art von Philosophie ist, noch eine Randnotiz. Lukács’ Lieblingsautor war Thomas Mann, den er in seiner umfangreichen Literaturkritik ausgiebig verteidigt. Tatsächlich soll der ungarische Philosoph als Vorbild für Leo Naphta gedient haben, den strengen jüdisch-jesuitisch-marxistischen Intellektuellen, der Castorps geistige Welt beherrscht und endlos mit dem hedonistischen Humanisten Luigi Settembrini streitet. (Naphta erschießt sich später bei einem Duell mit dem Italiener selbst.) Die Figur des Naphta ist weit ungezwungener und zynischer als Lukács, der 1956 Imre Nagys antisowjetischer Regierung als Kabinettminister beitrat und als Folge mit Exekution und Deportation nach Rumänien

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