Amour bleu. Andreas Bahlmann

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die Eisenbahnbrücke wurde mühsam bezwungen, und der Bahnsteig 2 landete unter meinen Füßen, wo man die Bahn in die City von Paris besteigen konnte.

      Der Bahnhof lag in bequemer Sichtweite unter meinem Wohnungsfenster. Die rumpelnden Züge und mich trennten nur vier Stockwerke mit knarrenden Holztreppen und wenige Straßenmeter Fußweg.

      Das quietschende Bremsen der einfahrenden, das laute Dröhnen der abfahrenden Vorstadtzüge und RER-Bahnen war tagsüber alle paar Minuten zu hören, abends weniger. Nachts zwischen halb drei und vier Uhr ruhte der Bahnhof der Pariser Vorstadt »La Garenne Colombes«.

      Mich störten die Züge nie, ganz im Gegenteil.

      Ich mochte diesen Teil meines neuen Lebens, besonders wenn es dunkel war und jedes Geräusch wichtig wurde, weil es sich nicht mehr mit dem Tageslärm vermischte. Die zischend öffnenden Türen, die bedachtsamen oder stolpernden Schritte der aussteigenden Nachtschwärmer, das Klacken der Absätze, das Reißen eines Streichholzes oder Klicken eines Feuerzeuges, welches die eigene Ankunft oder das Weiterfahren des Zuges mit dem Anzünden einer Zigarette quittiert. Die schabenden Schritte auf den Treppenstufen der Eisenbahnbrücke, das Bellen eines Hundes irgendwo in der Ferne oder das Miauen einer Katze im Hinterhof um die Ecke... ich liebte diese geräuschvolle Kulisse des Lebens.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit näherte sich ratternd die RER-Bahn. Eine Ewigkeit voller schwermütiger Gedanken, die nicht aus dem Herz entweichen wollten, zu sehr zerrte in mir die Liebe nach Isabelle.

      Henri hatte also tatsächlich Recht gehabt.

      Henri?

      Wieso kam ich jetzt bloß auf Henri?

      »Ja, ... ich weiß, Henri«, sagte ich im gedanklichen Dialog zu mir selbst:

      »Es ist nicht gutgegangen mit uns beiden ...«

      Aber ob es wirklich an unseren Sternzeichen lag, wie er damals orakelt hatte?

      Ich wußte nur so viel: Mit Isabel war es anders geplant und gehofft gewesen, … wenn ich denn überhaupt einen Plan oder eine Hoffnung gehabt haben sollte ...

      Nur spielte das jetzt überhaupt keine Rolle mehr.

      Die Metro hielt an, die Türen öffneten sich zischend. Der Sog dieser geöffneten Stahlschlange nahm mich in ihrem Inneren auf und plazierte meine willenlose und weinerliche Existenz auf einer muffig riechenden, leicht speckigen Kunstleder-Sitzbank.

      Die ratternde Reise auf den Gleisen zu dieser einzigartigen Großstadt schüttelte meinen guten Freund Chandon in meine Gedanken.

      Unsere Freundschaft begann zufällig in einem Pariser Bistro-Café, ausgelöst durch einen umgefallenen Stuhl.

      Zufällig?

      So richtig mag ich nicht an Zufälle glauben. Sie erweisen sich doch meistens als Verkettungen von Zufälligkeiten, deren jeweilige Geschichten beinahe zwangsläufig, aber zufällig zusammengeführt werden, was dann wiederum vom Zufall abhängt.

      Damals wurde in diesen Pariser Bistros noch viel geraucht, und beim Betreten empfing einen diese unvergleichliche Geruchs-Melange aus Pastis, Rotwein, Espresso und dem unparfümierten Tabakqualm der französischen Gauloises oder Gitanes.

      Die kleinen blauen Zigarettenschachteln mit dem Gallier-Helm oder die flachen, blauen, aufschiebbaren Pappschachteln mit der abgebildeten Tamburin spielenden und tanzenden Zigeunerin, waren als französisches Kulturgut überall erhältlich.

      Ich liebte diesen süßlich-herben, schweren Geruch und die leicht hallige Akustik der Bistros mit ihren gefliesten Böden, auf denen nach Feierabend die graue Asche, ausgetretene Zigarettenkippen, zusammengeknüllte Papierservietten, leere Zuckertütchen, heruntergefallene Baguette- oder Eierschalenreste vom Kellner, manchmal auch vom Patron selbst, mit Besen und Kehrblech zusammengefegt wurden. Aber nicht selten wurde der ganze Boden-Unrat auch mit Schwung über den Gehweg in den Rinnstein gefegt, um dort den im Morgengrauen auftauchenden, sich träge vorwärts schleichenden, alles in sich aufsaugenden Kehrmaschinen, gelenkt von dösenden, stumpf und müde dreinblickenden Fahrern, zum Fraß vorgeworfen zu werden.

      Damals betrat ich um die Mittagszeit das Bistro-Café Les Colonnes in der Rue du Général Leclerc, nahe der Metro-Station Issy-les-Moulineaux.

      Drinnen war es ziemlich voll und laut.

      Die französische Lebhaftigkeit und legere Lebensart vermischte sich mit dem geschäftighektischen Geschirr-Geklapper, übertönt vom kreischenden Zischen der Kaffee-Maschinen beim Zubereiten von Espresso und Milchschaum.

      Ich schaute mich nach einem freien Platz um.

      Ich verspürte keine Lust auf einen Kaffee im Stehen an der Theke, auch wenn der Verzehr von Getränken oder essbaren Kleinigkeiten dort preiswerter als auf einem der Sitzplätze war. Am teuersten war es draußen, an einem der Tische an der Straße, wegen der längeren Bedienungs-Wegstrecke.

      An der Theke hingegen erfuhr man die Vorzüge einer schnörkellos direkten, jede Überflüssigkeiten vermeidenden Bedienung.

      Entweder wurden das Getränk oder der kleine Imbiss resolut knackig vor dir abgestellt oder rutschten mit viel Schwung und punktgenauem Stopp zu deinem Platz. Man brauchte nur noch die Hand zu senken, einzutauchen und umzurühren, wenn man bereits einen Löffel in der Hand hielt oder einfach reinzubeißen. Am Fenster, an einem der kleinen runden Tische, entdeckte ich einen freien Platz. Ich bahnte mir einen Weg durch die eng sitzenden, schwatzenden, flirtenden, lesenden und lachenden Bistro-Gäste und blieb am Tisch hinter dem freien Stuhl stehen. Gegenüber saß ein etwas unscheinbar und älter aussehender Mann. Er schien tief in seine Gedanken versunken und schaute seitlich nach draußen. Seinen dunklen, grobstoffigen Mantel hatte er nicht abgelegt, ebenso wenig seine Baskenmütze. In seinen Händen hielt er behutsam eine Postkarte. Vor ihm auf dem Tisch stand auf einem dickrandigen Unterteller eine leergetrunkene Espresso-Tasse, an deren Rand sich braune, verkrustete Spuren heruntergelaufenen Espressos abzeichneten.

      Inmitten dieser lärmenden, lebhaften Umgebung strahlte der Mann eine seltsame aber angenehme Ruhe aus, beinahe wie eine Oase der Stille.

      Ich fragte ihn, ob der Platz an seinem Tisch noch frei wäre.

      Sofort tauchte er freundlich lächelnd aus seinen Gedanken auf und bot mir mit einer einladenden Geste den freien Stuhl an. Ich setzte mich dankend und bestellte einen doppelten Espresso.

      Mein Gegenüber orderte das Gleiche.

      Wir schauten durch das Fenster und verfolgten schweigend das geschäftige Treiben draußen auf der Straße. Vor uns stauten sich ungehalten hupende Autos, die nicht weiterfahren konnten, weil ein Lieferwagen auf der Fahrbahn parkte. Sein Fahrer, ein untersetzter Mann in Latzhose, mit schmutzig-gelb erkaltetem Stummel einer filterlosen Maispapier-Zigarette zwischen seinen Lippen, stand vornübergebeugt, vom Hupkonzert gänzlich unbeeindruckt, in der geöffneten Hecktür seines Vehikels und lud in aller Seelenruhe seine Warenkartons aus. Wieder andere Autos hupten nervös, weil die Vorderleute nicht zügig genug durch den Verkehr drängten. Klingelnde und laut knatternde Mopeds suchten im Slalom schlängelnd ihren Weg durch die überfüllten Fahrspuren. Fußgänger, selten mal ein Radfahrer, passierten den Bürgersteig vor unserem Fenster. Die meisten Passanten gingen eiligen Schrittes vorbei. Einige hielten Aktentaschen in der Hand, manche hatten lange Papprollen unter den Arm geklemmt und hetzten zum nächsten Termin. Ein Grüppchen von jüngeren und älteren Frauen stöckelte, mit ihren an feinen Riemchen in der Armbeuge hängenden Handtaschen, fröhlich schwatzend

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