Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
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Ein anschauliches Beispiel mag hilfreich sein: Zwischen 1980 und 1997 transferierten die ärmeren Länder 2,9 Billionen US-Dollar als Schuldendienst an Banken, Regierungen des Nordens und internationale Finanzinstitutionen wie Weltbank und IWF. Doch im selben Zeitraum wuchs ihre Gesamtverschuldung noch von 568 Milliarden Dollar auf über zwei Billionen. Verschuldung transferiert also massenhaft Ressourcen von den Armen zu den Reichen, und zwar durch den Zaubertrick der sich aufsummierenden Zinsen. Dieses stets wachsende Pfandrecht gegenüber der zukünftigen Produktion der ärmeren Länder kann niemals eingelöst werden. Und doch fährt das parasitäre Weltfinanzsystem fort, die Armen und die Erde selbst auszusaugen, und besteht darauf, dass alles, was nur an Reichtum herausgepresst werden kann, dazu verwendet werden muss, die Finanzwirtschaft zu bereichern.
Geld kolonisiert das Leben
Die meisten von uns betrachten die Ökonomie als die Wissenschaft (oder Kunst) der Produktion, der Verteilung und des Konsums von Reichtum. In einer etwas gröberen Sichtweise denken viele von uns, Ökonomie sei die Kunst des Geldmachens. Im Griechischen jedoch lautet das Wort oikonomia, das ist die Kunst, einen Haushalt – die Gemeinschaft, eine Gesellschaft oder die Erde ‒ zu führen und für ihn zu sorgen. Tatsächlich haben Ökonomie und Ökologie eine gemeinsame Wurzel. Es geht um die Wissenschaft vom Haus (griech.: oikos).
Aristoteles traf eine klare Unterscheidung zwischen „Ökonomie“ und „Chrematistik“. Letzteres meint die spekulativen Tätigkeiten, die nichts von Wert erzeugen, aber dennoch Profit abwerfen. Chrematisitk wird als der „Zweig der politischen Ökonomie“ definiert, „der sich mit der Handhabung von Eigentum und Reichtum beschäftigt mit dem Ziel, den Geldwert für den Besitzer kurzfristig zu maximieren“ (H. Daly/Cobb, 1989, 138).
Aristoteles nimmt das Beispiel des Philosophen Thales von Milet zu Hilfe, um den Unterschied zwischen Ökonomie und Chrematistik zu veranschaulichen. Jahrelang hatten sich die Mitbürger über den einfachen Lebensstil des Thales lustig gemacht. Sie fragten: „Wenn die Philosophie so wichtig ist, warum warst du dann nicht imstande, Reichtum anzuhäufen?“ Thales entschloss sich dazu, ein praktisches Exempel zu statuieren. Aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse war er in der Lage, eine Rekordernte für Oliven vorherzusagen. Deshalb mietete er noch während des Winters alle Olivenpressen zu einem sehr günstigen Preis. Als die Rekordernte dann eintraf, nutzte er seine Monopolstellung aus, um einen beachtlichen Profit für sich selbst zu erzielen – doch auf Kosten der Gemeinschaft insgesamt.
In vieler Hinsicht ähnelt das, was Thales getan hat, dem, was heute auf den Weltfinanzmärkten vor sich geht. Er jedoch sah es als das an, was es ist – eher als eine Übung in Chrematistik, nicht in Ökonomie. Letztendlich hatte er nichts von Wert geschaffen. Er hat keine neuen Nutzanwendungen für Olivenöl erfunden, er hat keine neue Olivenpresse gebaut und keine Olivenbäume gepflanzt. Er hat sich einfach nur selbst bereichert, und zwar auf Kosten der anderen.
Vieles von dem, was wir als „Ökonomie“ ausgeben und praktizieren, ist nicht viel mehr als eine etwas ausgefeiltere Chrematistik. Tatsächlich haben die Aktivitäten, die die höchste Rendite abwerfen, wenig oder gar keinen Wert (sie erhalten oder fördern das Leben nicht, ja sie können es sogar zerstören), während Tätigkeiten, die wirklich produktiv sind – Kindererziehung, Produktion von Lebensmitteln, Naturschutz – wenig Geld einbringen. Deshalb ist in unseren Augen der Investmentbanker mehr „wert“ als die Bäuerin, die sich abmüht, den Boden und ihre Familie zu ernähren. Vandana Shiva schreibt:
„Der Gipfel des Reduktionismus wird dann erzielt, wenn der Zugriff auf die Natur mit einer Auffassung von Wirtschaftsaktivität konfrontiert wird, deren Ziel nur mehr das Cash ist. Dann verschwindet das Leben als Organisationsprinzip für Wirtschaftsbelange völlig. Das Geld aber – und das wirft das eigentliche Problem auf – ‚verhält‘ sich asymmetrisch zum Leben und zu den Lebensprozessen: Manipulation, Ausbeutung und Destruktion von Leben in der Natur können in der Tat Quelle von Reichtum sein, niemals jedoch zur Quelle von Leben für die Natur und ihr lebenstützendes Potenzial werden. Diese Asymmetrie ist dafür verantwortlich, dass sich die ökologischen Krisen verschärfen und dass das lebenspendende Potenzial der Natur abnimmt, weil mit wachsender Kapitalakkumulation und der Verbreitung von ‚Entwicklung‘ ein Prozess in Gang kommt, bei dem die Währung ‚Leben‘ durch die Währung ‚Cash und Profite‘ ersetzt wird.“ (1989 a, 37)
David Korten sagt, in unserer Zeit habe das Geld das Leben kolonisiert. Das ist ein treffender Satz. In ähnlicher Weise hat vor mehr als fünfzig Jahren der große Wirtschafshistoriker Karl Polanyi davor gewarnt, dass „der Begriff Gewinn“ die Oberhand über den gesellschaftlichen (und wir können hinzufügen: auch den ökologischen) Bezugsrahmen erlangen könnte, sodass die Gesellschaft (und die umfassendere planetarische Gemeinschaft) ein bloßes „Anhängsel des Wirtschafssystems“ würde. Er warnte davor, dass die „Selbstregulierung des Marktes“ nicht länger bestehen könne, „ohne die humane und natürliche Substanz der Gesellschaft selbst zu vernichten“, wenn die Gesetze des Handels (oder genauer gesagt; der Chrematistik) den Vorrang vor den Gesetzen der Natur und den Gesetzen Gottes erhielten (zitiert bei Athanasiou 1996, 197).
Monokultur des Geistes
Das krankhafte System, das den Planeten beherrscht, scheint in der Tat die Menschen und andere Lebenszusammenhänge in bloße „Anhängsel des Wirtschafssystems“ zu verwandeln. Auf diese Weise setzt es eine Kultur (oder besser gesagt die Karikatur einer solchen) durch, die lokale Kulturen und lokales Wissen zerstört, dadurch die Menschheit insgesamt ärmer macht und unser eigenes Überleben als Art gefährdet. Vandana Shiva betont, dass diese „globale Kultur“, die der Welt durch den Kapitalismus der Konzernherrschaft aufgezwungen wird, sich in gewisser Weise als allgemein gültig darstellt, obwohl sie in Wirklichkeit das Produkt einer partikulären Kultur ist (die in Nordamerika und Europa ihren Ursprung hat). „Sie ist lediglich die globalisierte Version einer lokal sehr begrenzten und geistig provinziellen Tradition.“ (Shiva 1993, 9)
Diese sogenannte globale Kultur, die durch die Werbung, die Massenmedien und ein okzidental geprägtes Bildungssystem so erfolgreich verbreitet wird, tendiert dazu, überhaupt zu leugnen, dass es lokales Wissen und traditionelle Weisheit gibt, bestreitet deren Daseinsberechtigung oder erklärt sie schlicht als nicht existent. Im besten Fall integriert die sich weltweit durchsetzende Kultur einige symbolische Elemente wie Musik, Kleidung oder Kunst aus nichtwestlichen Kulturen. Doch das Wesen und die Werte dieser Kulturen werden weitgehend nicht zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig lässt die globalisierte Kultur „Alternativen verschwinden, indem sie die Wirklichkeit austilgt und zerstört, welche sie darzustellen versuchen. Die Einförmigkeit des herrschenden Wissens dringt durch die Bruchlinien ein. Zusammen mit der Welt, auf die sie sich beziehen, werden diese Alternativen dem Untergang preisgegeben. So erzeugt das herrschende wissenschaftliche Denken eine Monokultur des Geistes, indem es den Raum für Alternativen verschwinden lässt.“ (Shiva 1993, 12)
Das Wissen aufspalten und monopolisieren
Eine Weise, wie Wissen aufgespalten und zerstört wird, ist ironischerweise die massenhafte Verbreitung von Information, die vielfach nur von geringem Wert ist. Das durchschnittliche amerikanische Kind sieht sich dreißigtausend Werbespots an, bevor es den ersten Schulabschluss macht, und Teenager verbringen mehr Zeit damit, sich von kommerziellem Fernsehen einlullen zu lassen, als sie in der Schule zubringen (Swimme 1996). Eine solche langfristige und ständige Gehirnwäsche, die schon früh beginnt, kann unseren Blickwinkel nur einengen und uns dazu abrichten, die herrschende (Un-)Ordnung als Normalität zu betrachten. Es ist zum Beispiel kaum zu glauben, dass ein durchschnittlicher US-Bürger mehr als tausend Firmenlogos, aber nicht einmal zehn Tier- und Pflanzenarten aus seiner Region kennt (Orr 1999). Die herrschende Monokultur stopft uns mit „irrelevanter“ Information voll, hält uns aber oft davon ab, echtes Wissen zu erwerben.