Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
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Tiefenökologie
Die Tiefenökologie beschäftigt sich wie andere ökologische Denkansätze auch mit der gegenwärtigen Zerstörung der Biosphäre der Erde und mit den Möglichkeiten einer Wiederherstellung der Lebenssysteme des Planeten. Doch sie geht deutlich über manche „oberflächlichen“ Formen ökologischen Denkens hinaus, welche die Leute dazu motivieren wollen, die „Umwelt“ zu retten, weil diese irgendwie nützlich für den Menschen sei. In der Sichtweise der Tiefenökologie haben andere Arten oder Ökosysteme einen Wert in sich, unabhängig vom Nutzen oder ästhetischen Wert für die Menschen. Die Tiefenökologie meint in der Tat, dass viele Arten des Engagements für die Umwelt insofern anthropozentrisch, d. h. auf den Menschen als Mittelpunkt ausgerichtet, sind, als sie die Welt immer noch so betrachten, als wären die Menschen der Maßstab aller Werte, die Spitze einer hierarchisch vorgestellten Schöpfung. Der Psychologe Warwick Fox bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: „Selbst viele von denen, die sehr direkt mit Umweltthemen zu tun haben, verfestigen weiterhin, wenn auch unwissentlich, die überhebliche Haltung, dass wir Menschen im Zentrum des kosmischen Dramas stünden, dass die Welt im Wesentlichen für uns gemacht wurde.“ (1990, 10–11)
Die Tiefenökologie stellt tatsächlich bereits die Vorstellung von einer „Umwelt“ unabhängig von der Menschheit infrage. Die Menschheit wird als ein Teil der Welt der Natur betrachtet, als ein Teil des umfassenderen „Netzes des Lebens“. Dies gilt sowohl für eine physikalische als auch für eine eher spirituelle oder psychologische Ebene. Wenn wir die Luft, das Wasser und den Boden vergiften, dann vergiften wir uns selbst. Wenn wir die Schönheit und Vielfalt der planetarischen Gemeinschaft verkommen lassen, dann machen wir auch unser Menschsein ärmer. Wendel Berry schreibt: „Die Welt, die uns umgibt, die um uns ist, ist auch in uns. Wir sind aus ihr gemacht; wir essen, trinken und atmen sie; sie ist Bein von unserem Bein und Fleisch von unserem Fleisch.“ (zitiert bei Hawken 1993, 215)
Die Tiefenökologie versucht, über die symptomatische Herangehensweise einiger Varianten des Umweltdenkens hinauszugehen und die tiefer liegenden Wurzeln der ökologischen Krise aufzuspüren: „Die Tiefenökologie erkennt, dass nichts weniger als eine vollständige Revolution in unserem Bewusstsein dauerhaft von Nutzen sein wird, um die Lebenssysteme unseres Planeten zu erhalten.“ (Seed et. al. 1988)
Das Bewusstsein revolutionieren
Und worin besteht nun diese „Revolution im Bewusstsein“? Arne Naess (1912–2009), von dem die Idee der Tiefenökologie ursprünglich stammt, behauptet, ihre beiden entscheidenden Elemente seien Selbstverwirklichung und biosphärische Gleichheit.17
Selbstverwirklichung behauptet, dass die Menschen mit der gesamten Ökosphäre zutiefst verbunden sind. Menschen stehen nicht neben oder über dem umfassenderen Netz des Lebens. Alle Organismen, auch die Menschen, werden als „Knotenpunkte im biosphärischen Netz oder Feld intrinsischer Beziehungen“ betrachtet (Arne Naess, zitiert bei Roszack 1994, 320). Selbstverwirklichung entspringt daher einer tiefen Empathie und dem Mitleid, das uns mit allen Lebewesen verbindet. Naess bringt es folgendermaßen zum Ausdruck: „Im Stadium der Reife werden Menschen Freude erleben, wenn andere Lebensformen Freude erleben, und Kummer, wenn andere Lebensformen Kummer erleben.“ (zitiert bei Kheel 1990, 135) Gleichzeitig werden wir aufgrund dieser tiefen Verbundenheit durch die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Arten und Ökosysteme der Erde bereichert:
„Die Selbstverwirklichung, die wir erfahren, wenn wir uns mit dem Universum identifizieren, wird noch verstärkt durch die Vermehrung der Weisen, wie Individuen, Gesellschaften und sogar Arten und Lebensformen sich selbst verwirklichen. Je größer also die Vielfalt, umso größer die Selbstverwirklichung […]. Die meisten Menschen, die sich mit Tiefenökologie beschäftigen, hatten – gewöhnlich, aber nicht immer, in der Natur – das Gefühl, dass sie mit etwas Größerem als ihrem eigenen Ego, ihrem eigenen Namen, ihrer Familie, ihren besonderen Eigenschaften als Individuum in Verbindung stehen […] Ohne diese Identifikation wird jemand nicht leicht dazu gelangen, sich auf Tiefenökologie einzulassen.“ (Devall/Sessions 1985, 76)
Biosphärische Gleichheit entspringt einer ähnlichen Weltauffassung. Jedes Lebewesen und jedes Ökosystem haben ein unveräußerliches Daseinsrecht, das nicht von der Nützlichkeit für die Menschheit abhängt. Natürlich kann es sein, dass ein Organismus den anderen töten muss, um selbst zu überleben, doch kein Organismus (auch nicht der Mensch) hat das Recht, andere ohne einen Grund zu zerstören, und kein Organismus hat das Recht, eine ganze Art auszurotten. Die Menschen mögen deshalb töten, um Grundbedürfnisse zu befriedigen, sie mögen der Erde entnehmen, was nötig ist, um ihre Gesundheit und Würde sicherzustellen, aber sie haben nicht das Recht, die Artenvielfalt zu zerstören, um Kapital und Reichtümer anzuhäufen oder unnötigen Luxus zu produzieren. Letztlich bedeutet dies auch, dass Menschen davon absehen müssen, andere Arten und andere Menschen beherrschen zu wollen:
„Ökologisches Bewusstsein und Tiefenökologie stehen in scharfem Widerspruch zur herrschenden Weltsicht der technisch-industriellen Gesellschaften, die die Menschen als isoliert und in grundlegender Weise getrennt vom Rest der Natur, als ihr überlegen und für den Rest der Schöpfung zuständig betrachtet. Doch die Auffassung, dass die Menschen getrennt von der übrigen Natur sind und über ihr stehen, ist lediglich Teil von umfassenderen kulturellen Denkmustern. Tausende Jahre lang war die westliche Kultur vom Gedanken der Herrschaft besessen: der Herrschaft der Menschen über die nichtmenschliche Natur, der Männer über die Frauen, der Reichen und Mächtigen über die Armen, des Westens über die nichtwestlichen Kulturen. Ein tiefenökologisches Bewusstsein macht es uns möglich, diese falschen und gefährlichen Illusionen zu durchschauen.“ (Devall/Sessions 1985, 65–66)
Kritik am Anthropozentrismus
Vom Standpunkt der Tiefenpsychologie aus gesehen ist die Grundhaltung des Anthropozentrismus die Wurzel der ökologischen Krise. Der Anthropozentrismus kann als die Überzeugung definiert werden, dass nur der Mensch einen Wert in sich habe. Alles andere auf der Welt ist dagegen von relativem Wert und nur insofern von Bedeutung, als es den Interessen des Menschen dient.
Der Anthropozentrismus trennt uns vom Rest der planetarischen Gemeinschaft. Wir betrachten uns als über den anderen Kreaturen stehend. Den Res der Biosphäre reduzieren wir auf eine Umwelt, die von uns getrennt ist.
Der Anthropozentrismus bildet das innere Wesen unseres derzeitigen antiökologischen theoretischen und praktischen Verhältnisses zur Wirtschaft. Bereits unsere Sprache – wir sprechen von „Rohmaterial“, „natürlichen Ressourcen“, ja sogar von „Sorge um die Umwelt“ ‒ verrät uns, da sie unser Grundverständnis bestätigt, dass die nichtmenschliche Welt dem Menschen zu Diensten ist und ihm zur Verfügung steht.
Die meisten von uns haben diese Auffassung nie ernsthaft infrage gestellt. Es kommt uns ganz selbstverständlich vor, die Menschheit als irgendwie oberhalb oder außerhalb des Rests der Erdgemeinschaft anzusiedeln. Wir meinen, das Recht zu haben, die Erde zu gebrauchen, auch wenn dies anderen Arten schadet oder sie tatsächlich ausrottet.
Einige bestehen natürlich darauf, dass wir anthropozentrisch sein und dabei trotzdem andere Lebensformen schützen können. Und es liegt tatsächlich auf der Hand: Um die Gattung Mensch zu erhalten, müssen wir die Natur wenigstens zum Teil schützen. Doch es erhebt sich unmittelbar die Frage: Wie viel Natur muss erhalten werden, und den Verlust welcher Arten