Mein Name sei Berlin. Группа авторов

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fragt die Mutter, und im wirren Durcheinander werden von drei Schwestern und zwei halberwachsenen Brüdern wirre Vermutungen ausgesprochen, bis es unter dem Tisch leise zu »miauen« anfängt und Paul, am unteren Ende des Tisches, aus seiner Versenkung hervortritt. Bei guter Laune durch allgemeine Heiterkeit belohnt, bei schlechter Laune durch eine Ohrfeige bestraft. Letzteres führt zu Weinen. Worauf sich ein Disput zwischen den Eltern entspinnt, ob es nicht zu streng war. Die Kinder nehmen, wie ein in Majorität und Minorität geteilter parlamentarischer Körper, an dieser Debatte teil und beschließen, daß der »arme Paul« ein Schmerzensgeld erhalten soll, einen Apfel oder drei Pflaumen. Er stürzt auch sofort auf die Kommode zu, wo der Obstteller steht, und beißt in seinen Apfel rein, während die anderen noch bei der Suppe sind. Der älteste Sohn läßt sie von dem hocherhobenen Löffel in einem dünnen Strahl niederträufeln, angeblich, um sie zu pusten, in Wahrheit, um zu zeigen, wie dünn sie ist.

      Es kommt nun Fleisch mit Soße, und die zweite Tochter erzählt etwas, was der zweite Bruder im Laufe des Vormittags gesagt haben soll. Es ist das Gleichgültigste von der Welt. Nichtsdestoweniger entspinnt sich ein Streit über die Fassung dieses Zitats, und ehe noch geschlichtet werden kann, ist nicht nur die Wendung »das ist nicht wahr« dreimal gefallen, sondern der empörte Bruder erhebt sich auch ohne weiteres von der Tafel, und mit der Versicherung: »Alles gelogen, Martha lügt immer«, verläßt er das Zimmer.

      Denn alles ist Lebensfrage, und alles wird mit einer Leidenschaftlichkeit verhandelt, als ob das Schicksal ganzer Völkerschaften auf dem Spiele stünde. Am häufigsten, wenn nicht Streitszenen ausbrechen, sind die wissenschaftlichen und am liebsten die politischen Debatten, an welch letzteren teilzunehmen bis zu Paul hinunter jedem Mitgliede der Familie freisteht. Dieser Eifer über Tisch führt, bei der Gründlichkeit aller Familienmitglieder, zu beständigem Nachschlagen in Büchern und Zeitungen, wobei dann die großformatige, das Haus beherrschende »Norddeutsche All. Zeitung« in der ganzen Fülle ihres Großformats aufgeschlagen und mit ihren Spitzen in die Kompottschüssel getaucht wird. Fast immer Preißelbeeren. Allmählich verlaufen sich die Mitglieder der Tafel, die nicht aufgehoben wird, sondern sich auflöst und heute eine Stunde lang unabgedeckt bleibt, da das Mädchen in der Waschküche zu tun hat und die Fräuleins in den Zoologischen müßen. Es ist ein heißer Tag. Die Fliegen werfen sich über die Teller her, und wer den Berliner Saal um diese Stunde passiert, erschrickt.

       In der Gesellschaft

      Sie sprechen nur von sich, oder wenn ausnahmsweise ein Gegenstand, eine Sache, zum Gesprächsgegenstand wird, so behandeln sie ihn so, daß die Art der Behandlung, ihre Stellung dazu zur Hauptsache wird. Es wird das Trapez, an dem sie turnen. Das Turnen bleibt die Hauptsache.

      Sie wissen alles, sie lassen niemand zu Worte kommen und unterbrechen jeden.

      Alles kritisiert. Man kann füglich sagen, ganze Klassen leben nur, um zu kritisieren. Es ist ihr täglich Brot. Aber sonderbarerweise, wie Küstenvölker, die beständig mit Wasser zu tun haben, meist nicht schwimmen können, so können die Berliner, die an dem Wasser der Kritik wohnen, nicht kritisieren. Sie sind sehr witzig und haben bis zu einem hohen Grade die Fähigkeit ausgebildet, die lächerlichen Seiten einer Sache herauszufühlen, aber eigentliches Urteil haben sie nicht. Über nichts. Weder über Menschen, noch Politik, noch Kirche. Am wenigsten über Kunst. Die Witzigen begnügen sich mit einem Witz, die große Masse wartet ihre Zeitung ab und schmückt sich offenkundig mit fremden Federn, wie Damen falsches Haar als einen Schmuck tragen. So hört man oft: Wir wollen das bis morgen lassen; ich habe O. Bl.1, L. P. noch nicht gelesen.

      Ungeheure Streitlust, Rechthaben à tout prix.

      Diskretion existiert nicht. Es bedarf deshalb auch kaum einer näheren Bekanntschaft, um zu den »Bekenntnissen einer schönen Seele« überzugehen. Diese schöne Seele ist natürlich die eigene Abstammung. Ehegebrechen werden mit einer Offenheit behandelt, die vom Standpunkt der Wahrhaftigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Überhaupt: offen sein, wahr sein, das ist das dritte Wort. Dahinter verbirgt sich aber viel Schlauheit.

      Bei näherer Bekanntschaft beginnen die Bekenntnisse. Diese fließen keineswegs aus einer beichtebedürftigen Seele. Beichte! Was heißt Beichte? Beichte hat Reue zur Voraussetzung, und dies zählt zu dem letzten, womit man sich abgibt. »Ein unglaublicher Grad, mit sich zufrieden zu sein«, ist ein hervorstechender Zug.

       Mit Fremden

      Mit der Ortseitelkeit hängt zusammen, daß auf den Fremden gar keine Rücksicht genommen wird. Überall in der Welt kommt man dem Fremden entgegen und macht seine Interessen zu den seinigen oder gibt sich wenigstens das Ansehen davon, man erkundigt sich nach Einrichtungen seiner Stadt, seines Landes, fragt nach seiner Kunst, nach seiner Beschäftigung. Man sucht sich zu belehren und vor allem den Fremden dadurch wohltätig zu berühren.

      Das kennt der Berliner nicht. Er fordert sofort ein Eingehen auf seine Stadt und das Leben und die Interessen derselben. Vor zehn Jahren besuchte mich ein Leipziger. Er kam aus Paris und ging nach Leipzig zurück. Sein Gesicht strahlte, denn er umfaßte nun die Welt. Sein Axiom war: »In Paris vollziehen sich die Dinge, in Leipzig werden sie gedacht.« Der eigentliche Berliner kennt diese Zweiteilung nicht, er sorgt für das eine und das andere.

      »Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner.« Nicht nur von Niemann und der Mallinger, auch von Herrn Schwing und Frl. Hofmeister2 wird gesprochen, als ob jeder gebildete Mensch die Verpflichtung habe, sie zu kennen. Hildebrand, Manheimer und Samter3 werden als Weltzelebritäten behandelt, und die Worte Spandauer- oder Wall- oder Jägerstraße mit einer gewissen Nonchalance hingeworfen, als wäre es selbstverständlich, daß die Betreffenden dort wohnen.

       Schluß

      Es ist der unfeinste Ton, den die Welt kennt, und man kann an ihm studieren, wohin die bloße Behandlung des Wissenschaftlichen, des Lernens führt. Und wie recht diejenigen haben, die sich von einseitiger Kunst und Wissenschaftsentwicklung wenig für den wirklichen Fortschritt der Menschheit versprechen. Die Unfeinheit hat sich hier einen Typ geschaffen.

      Und doch! Es wohnt allem diesem ein Reiz inne, auch eine Berechtigung, ohne welche die ganze Erscheinung entweder nie entstanden wäre oder sich nicht gehalten hätte. Jeder wird die Wahrnehmung selbst gemacht haben. Nehmen wir nur England. England hat die schönsten Weiber, auch eminent an Geist und Witz und Form. Sie sind das Ideal. Aber ihre Zahl ist nicht übergroß, und der Zweck dieser Zeilen ist es nicht, von der Ausnahme, sondern von der Regel zu sprechen, nicht vom einzelnen, sondern von der Masse. Und wie ist die Masse drüben? Öd und leer; »stupid«, redensartlich. Sie treten vor die Sixtinische Madonna und sagen »very nice, indeed«, sie lesen eine erschütternde, aber von einigen Seltsamkeiten begleitete Geschichte und finden sie »very funny«, alles hat seinen Zettel oder kriegt ihn, als ob sich alles, was in der Welt ist und geschieht, in die sechs Rubriken »nice«, »beautiful«, »clever« und in »funny«, »awkward« und »shocking« einsperren ließe. Eine trostlose Leere gähnt einen an, und die Zauber des weißen Teints, des halbgeöffneten Herzmundes schwinden von Tag zu Tag mehr. Kommt man nach solchen Eindrücken in die Heimat zurück, so empfindet man das »Schaumspritzen der Freiheit«, das hier zu Hause ist, doch als Fortschritt und Segnung und sieht über das Schaumspritzen hinweg, das einem mitunter empfindlich in die Augen spritzt.

      Und was ist das Resultat? Über die Kultivierung dessen, was pikant und geistvoll und witzig und anregend und apart ist, ist uns die Kultivierung des Schönen verlorengegangen. Das Geistreiche hat sich auf Kosten des Schönen, der Esprit auf Kosten der Form als ein »rocher de bronze« stabilisiert. Behalten wir das Gute, aber geben wir ihm ein anderes Fundament, fügen wir zu der Bildung des Geistes auch die Bildung des Herzens, die freilich eine Revolution unserer gesamten Anschauung zur Voraussetzung hat, und der Berliner Ton wird der erste sein, wie er jetzt, Pardon, der letzte ist.

      

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