Gewaltlosigkeit im Islam. Muhammad Sameer Murtaza
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Der Ayatollah: Nimr Baqir An-Nimr und die gewaltfreie Bewegung in Saudi-Arabien
Die schiitische Minderheit in Saudi-Arabien
Gewaltloser Protest gegen den wahhabitischen Staat
Die Bewegung: Der gewaltlose Widerstand der Palästinenser
Der Nahost-Konflikt heute: ein gordischer Knoten
Der gewaltlose Widerstand der Palästinenser
Geleitwort
Nie war es leichter, sich über die Welt zu informieren, als heute. Damit wächst aber auch die Gefahr, falschen Informationen zu erliegen. Die Vielfalt der politischen Herausforderungen und die Komplexität demokratischer Prozesse, national wie global, wecken bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Klarheit und Orientierung. Populisten verschiedener Couleur greifen dies auf, indem sie simple Antworten auf komplizierte Fragen präsentieren, die von vielen dankbar angenommen werden.
Dieses Phänomen betrifft auch die Religionen und in besonderer Weise den Diskurs über Religion im Kontext von Krieg und Gewalt. Angesichts der Medienberichterstattung über religiös geprägte Gewaltkonflikte kann es nicht verwundern, dass Religionen wahrlich nicht im Ruf besonders geeigneter Friedensstifter stehen, ganz im Gegenteil. In der westlichen Welt gilt vorzugsweise der Islam als Bedrohung des gesellschaftlichen und globalen Friedens. Infolge der zahlreichen Gewaltakte bekennender Muslime – sei es in (Bürger-)Kriegen oder durch Terroranschläge – wird „dem Islam“ ein friedensethischer Gehalt kaum zugetraut, nicht selten gar vollständig abgesprochen. Dies offenbart jedoch eine enorme Unwissenheit über die Vielgestaltigkeit des Islams im Allgemeinen und über islamische Friedensaktivitäten im Speziellen.
Wo muslimische Friedensakteure in Erscheinung treten, wird ihre Religionszugehörigkeit häufig ignoriert, oder sie werden als die berühmte „Ausnahme von der Regel“ betrachtet. Oder aber ihr Muslim-Sein wird mit einem leisen Erstaunen zur Kenntnis genommen, als würden diese Personen zum Frieden beitragen, obwohl sie Muslime sind – und nicht etwa, weil sie Muslime sind.
Dabei hat die islamische Friedensethik eine weit zurückreichende Geschichte in Theologie und Praxis, stellvertretend seien Jawdat Saʿids Ethik der Gewaltlosigkeit und Khan Abdul Ghaffar Khans gewaltloser Kampf an der Seite von Mahatma Gandhi erwähnt. Sie und andere Verfechter eines islamisch-theologisch begründeten Gewaltverzichts werden in diesem Buch vorgestellt. Der Autor konzentriert damit seine langjährige Beschäftigung mit der Friedensthematik, die bereits in zahlreichen Publikationen Niederschlag gefunden hat, auf den Aspekt der Gewaltlosigkeit im Islam. Wissenschaftlich fundiert und durchaus kritisch, folgt er dabei in bester Weise der journalistischen Devise „to inform and to enlighten“. Und doch geht es ihm um mehr als Aufklärung. Es geht ihm auch um „empowerment“, um theologische und praktische Ermächtigung zum gewaltlosen Einsatz für den Frieden. Dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung!
Die hier beschriebenen Personen und Initiativen sind Leuchttürme, doch keine Einzelfälle. Ihr Denken und Leben war und ist für viele Menschen Inspiration, Ermutigung und Orientierung – auch und gerade angesichts religiös begründeter Gewalt in ihren muslimischen Herkunftsgesellschaften, von den Paschtunen unter britischer Besatzung im damaligen Ost-Indien über Syrien bis Saudi-Arabien in heutiger Zeit. Und darum ist dieses Buch in doppelter Hinsicht so wichtig:
Den muslimischen Leserinnen und Lesern mag es Anregung und Ermutigung sein: Anregung, sich aus dieser oft vernachlässigten Perspektive der eigenen Religion neu zu nähern. Und Ermutigung, der gewaltverharmlosenden oder -verherrlichenden Rhetorik wie auch den schrecklichen Gewaltakten anderer Muslime selbstbewusst eine ganz andere, nämlich friedensorientierte und gewaltlose Lesart und Praxis der religiösen Überlieferungen entgegenzustellen.
Allen Leserinnen und Lesern, gleich welcher Religionszugehörigkeit oder auch ohne eine solche, mag es die Augen öffnen für die Vielfalt und lange Tradition friedensethischen Denkens und Handelns im Islam. Es wäre töricht, damit die unbestreitbaren religiös legitimierten Gewaltakte verschiedenster Zeiten und Akteure „aufrechnen“ zu wollen. Aber es trägt zur dringend notwenigen Differenzierung im Diskurs über Religion, respektive über den Islam, bei. Es macht deutlich, welche Friedenspotenziale auch in muslimischen Religionsgemeinschaften vorhanden sind. Diese Potenziale sind – wie in allen Religionen – bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Aber sie zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt zu ihrer Verwirklichung: in und zwischen den Religionsgemeinschaften, privat oder organisiert, lokal wie national und international.
Tübingen, im Mai 2019 Dr. Markus Weingardt
Einleitung
Vor mehr als 1.400 Jahren rief ein Mann namens Muhammad ibn Abdallah in einem entlegenen Winkel der Welt, nämlich der Arabischen Halbinsel, seine henotheistischen Zeitgenossen zu dem Glauben an den einen und einzigen Gott auf, den er in seinen Predigten als den Erbarmer, den Barmherzigen beschrieb.
Gleich, wie man Muhammads Wirken bewerten mag, sein Aufruf, seine spirituellen Übungen, Ethik und Taten haben die Welt verändert. Nach einigen Historikern leitete jener Mann, der heute im Allgemeinen unter Muslimen und Nichtmuslimen schlicht als „der Prophet“ bekannt ist, die Zeitenwende von der Antike zum Mittelalter ein. Nach dem französischen Schriftsteller und Politiker Alphonse de Lamartine (gest. 1869) war Muhammad „Gründer zwanzig irdischer Imperien und eines geistigen Reiches“1, sodass seine Gestalt in einer nahezu erstaunlichen Weise bis heute global präsent ist.
Seine Weltbedeutung provoziert. Zahlreiche Muhammad-Bilder kursieren unter Muslimen und Nichtmuslimen. Seine Bekanntheit und das scheinbare Wissen, wer Muhammad war, erschweren eine Annäherung an ihn und seine Botschaft, insbesondere zu einer Zeit, in der weite Teile der Welt, und damit Nichtmuslime als auch Muslime, sich mit der Herausforderung eines islamisch verbrämten Terrorismus konfrontiert sehen. Für Muhammad-Verehrer und -Sympathisanten hat der Islam nichts mit Gewalt zu tun. Für Muhammad-Gegner wurzelt die Gewalt in der Botschaft des Propheten und seinen Handlungen.
Für die in diesem Buch vorgestellten Gelehrten, Denker, Aktivisten und Bewegungen einer islamisch begründeten Gewaltfreiheit beginnt das Nachdenken über Gewaltlosigkeit mit einer Reflexion über Muhammad. Sie gelangen zu einem Bild vom Propheten, der in einer gewaltsamen und grausamen Gesellschaft lebte, in der das Primat des Stärkeren dominierte, und dagegen Nichtaggression, Barmherzigkeit durch Nächstenliebe und das Primat des Rechts lehrte. Muhammad ist für sie alle Identifikationsfigur für ein spirituelles Leben vor Gott und den Menschen, das sich durch inneren Frieden auszeichnet, der in die Welt hinausgetragen wird. Muslim zu sein, bedeutet für sie, Botschafter des Friedens zu sein und dort, wo Konflikte vorherrschen, zu ihrer Deeskalierung beizutragen.
Doch dieses Muhammad-Bild, darin sind sich alle in diesem Buch vorgestellten Persönlichkeiten einig, wurde nach dem Ableben des Propheten nach und nach