Gewaltlosigkeit im Islam. Muhammad Sameer Murtaza
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Konfrontiert mit einem islamisch verbrämten Terrorismus und Totalitarismus infolge der Ideologisierung des Islam Anfang des 20. Jahrhunderts sehen sie es als ihre Pflicht durch Wort, Schrift und Tat, der Friedensbotschaft des Propheten in der Welt abermals Gehör zu verschaffen und umzusetzen. Damit befinden sie sich inmitten eines Deutungsstreites mit Gewalttätern muslimischen Glaubens, aber auch passiven Gläubigen über das „richtige“ Muhammad-Bild und somit über das Erbe des Propheten und die Zukunft seiner Gemeinschaft.
Ob sie erfolgreich sein werden? Veränderungen geschehen niemals plötzlich. Veränderungen sind kein einfaches Unterfangen. Nie frei von Kontroversen und herben Rückschlägen. Veränderungen brauchen Nachdruck, Beständigkeit und Entschlossenheit. Die Saat wurde gesät. Sie kann aufgehen und schließlich Veränderung bewirken. Genau hiervon erzählt dieses Buch.
1 Vgl. Haikal, Muhammad Hussain (1987: 7).
2 Vgl. Ali, Syed Ameer (1873: 95).
Der Gelehrte: Jawdat Saʿids Ethik der Gewaltlosigkeit
Jawdat Saʿid
Jawdat Saʿid (geb. 1931) ist ein muslimischer Gelehrter aus Syrien, der sich ausdrücklich in die Tradition von Reformern wie Jamal Al-Din Al-Afghani (gest. 1897),3 Muhammad Abduh (gest. 1905),4 Muhammad Iqbal (gest. 1938),5 Malek Bennabi (gest. 1973) und Muhammad Asad (gest. 1992) stellt.6 Während andere muslimische Gelehrte und Denker weiterhin unbefangen über die juristische Frage publizieren, wann der ğihād als gerechte Selbstverteidigung legitim ist, wie ein solcher Kampf ausgefochten werden darf und was seine Grenzen sind, schlägt der an der Al-Azhar-Universität ausgebildete Gelehrte eine Gegenrichtung ein, wenn er in dieser schwierigen Zeit vom „Tod jeglichen Krieges“7 schreibt und damit seine intellektuellen Energien in den Dienst eines islamischen Friedenspotenzials stellt.
Saʿid hatte während seiner Studienzeit Ende der 1940er-Jahre miterlebt, wie die ägyptische Muslimbruderschaft immer militanter wurde.
Ihre Versuche, durch Attentate eine politische Veränderung zu erreichen, schadeten nicht nur dem Islam, sondern schufen zugleich ein gesellschaftliches Klima der Angst. So war es dem Staat dann möglich, Schritt für Schritt, zugunsten der Sicherheit, die bürgerlichen Freiheiten einzuschränken – bis heute. Von daher betrachtet er seinen Ansatz eines gewaltfreien islamischen Widerstandsrechts ausdrücklich als eine Gegenposition zu den muslimischen Gruppierungen in der Moderne, die allzu oft Gewalt als Mittel zum Zweck einsetzen, um politische Realitäten zu verändern. Insbesondere wendet er sich gegen das Denken des Ideologen Sayyid Qutb (gest. 1966), der den ğihād als Befreiungskampf zur Errichtung einer globalen Gottesherrschaft deutete.8 Als Reaktion auf dessen gewaltlegitimierenden Schriften verfasste Saʿid schließlich 1966 sein wegweisendes Buch Die Schule von Adams Sohn: Das Problem der Gewalt in der islamischen Welt. In elf weiteren Büchern baute er seine Lehre von der Gewaltlosigkeit im Islam weiter aus.
Nach seiner Rückkehr nach Syrien arbeitete Saʿid als Lehrer in Damaskus. Nach mehrmaligen Verhaftungen wegen seines gewaltlosen Engagements wurde er schließlich aus dem Staatsdienst entlassen. Ab 1973 siedelte der Gelehrte daher in sein Heimatdorf auf dem Golan zurück. Für den Versuch Anfang der 2000er-Jahre, seine Lehre in die Praxis umzusetzen und in Syrien eine Bürgerrechtsbewegung zu gründen, wurden seine Mitstreiter mit bis zu fünf Jahren Haft verurteilt. In den Bewegungen des Arabischen Frühlings bekam Saʿid in Syrien für seine Thesen dann wieder mehr Aufmerksamkeit. Auf Protestbannern konnte man immer wieder Zitate aus seinen Büchern lesen, und er selbst ermahnte die Demonstranten, sich nicht vom Assad-Regime zu gewalttätigen Handlungen provozieren zu lassen. Doch die Revolution schlug um in einen bewaffneten und blutigen Konflikt als der syrische Präsident mit Gewalt gegen die friedlich Protestierenden vorging.
Der 26-jährige Schneider Ghiyath Matar, der in seiner Heimatstadt Daraya den Spitznamen „Kleiner Gandhi“ innehatte, postete damals auf seiner Facebook-Seite: „Wir wählen die Gewaltlosigkeit nicht aus Schwäche oder Feigheit, sondern aufgrund einer moralischen Überzeugung; wir wollen den Sieg nicht erringen, indem wir unser Land zerstören.“9 Am 6. September 2011 wurde er von Sicherheitskräften festgenommen, wenige Tage später wurde seine verstümmelte Leiche seiner Familie und seiner schwangeren Frau zurückgegeben.10
Nach Amnesty International wurden zwischen 2011 und 2015 auf Anordnung von höchster Ebene bis zu 13.000 Häftlinge hingerichtet, entweder nach einem kurzen Scheinprozess oder ohne Gerichtsurteil. Assad zielte hierbei auf Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Intellektuelle, kritische Militärs, also jene Schicht, die man für einen Übergang zu demokratischen Verhältnissen braucht.11 Die Journalistin Andrea Böhm schreibt: „Assad wusste genau, wen er ermorden musste, um sich am Ende der internationalen Gemeinschaft als „alternativlos“ zu präsentieren.“12
Unter diesen Bedingungen sah sich der heute 88-jährige Jawdat Saʿid gezwungen, in die Türkei zu fliehen.
Das gewaltlose Ethos im Islam
Zweifelslos ist Saʿids Ansatz eines gewaltlosen Widerstandes, der selbst jegliches Recht auf Selbstverteidigung verwirft, in der Gegenwart für Muslime etwas radikal Neues und zugleich ein alternativer, noch nicht begangener Weg. Seine These eröffnet er mit einem theologischen Schachzug, indem er auf die Erzählung von den beiden Söhnen Adams verweist.13 Hierzu heißt es in der Offenbarung:
Und verkünde ihnen der Wahrheit gemäß die Geschichte der beiden Söhne Adams, als sie ein Opfer darbrachten.
Angenommen wurde es von dem einen von ihnen, aber nicht von dem anderen. Er sprach: „Wahrlich, ich schlage dich tot!“
(Der andere) sprach: „Siehe, Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an. Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen. Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Welten. Siehe, ich will, dass du dir meine und deine Sünde auflädst und ein Bewohner des Feuers wirst; denn dies ist der Lohn der Missetäter.“
Da trieb es ihn, seinen Bruder zu erschlagen, und so erschlug er ihn und wurde einer der Verlorenen.
Und Gott sandte einen Raben, dass er auf dem Boden scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die Missetat an seinem Bruder verbergen könnte.
Er sprach: „O weh mir! Bin ich zu kraftlos, wie dieser Rabe zu sein und die Missetat an meinem Bruder zu verbergen?“ Und so wurde er reumütig.
Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israels angeordnet, dass wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.
Und zu ihnen kamen Unsere Gesandten mit deutlichen Beweisen; aber selbst dann waren viele von ihnen (weiterhin) ausschweifend auf Erden. (5:27–32)
Damit stehen zwei Handlungen am Anfang der Menschheitsgeschichte: einmal der gewaltlose Widerstand und einmal der Mord.
Da beide Söhne Adams im Qurʾān namenlos bleiben, berichtet die Erzählung als Gattungsform der Urgeschichte ungeschichtlich von der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte.