Gewaltlosigkeit im Islam. Muhammad Sameer Murtaza
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43 Vgl. Said, Jawdat (o. J.1: 49).
44 Vgl. ebda. (49-50).
Der Lehrer: Maulana Wahiduddin Khans gewaltloser ğihād
Islam ist Frieden. Unentwegt hört man seit den Tagen des 11. Septembers 2001 von jungen Muslimen diesen Satz. Man kann ihn kritisieren als eine Verdrängung der Tatsache, dass auch der Islam, wie jede andere Religion und Weltanschauung, über ein Gewaltpotenzial verfügt. Man kann ihn beanstanden, da Terroristen muslimischen Glaubens sich wiederholt auf den Islam beziehen und ihre Taten mittels Versen aus dem Qurʾān legitimieren. Man kann ihn in Zweifel ziehen, da muslimische Autoren wie Sayyid Qutb, Muhammad Abd Al-Salam Farradsch (gest. 1982) und Abul Aʿla Maududi (gest. 1979) eine Auslegung des Islam hervorgebracht haben, die Legimitationsgrundlage ist für Terroristen muslimischen Glaubens. Man kann ihn zurückweisen, da er keine kritische Auseinandersetzung mit gewalttätigen Interpretationen des Islam und deren Denkern fördert und somit schließlich keine Veränderung bewirkt.
Andererseits, kann man eine solche denkerische Leistung von einem gewöhnlichen Gläubigen verlangen? Ist dies nicht vielmehr die Aufgabe von muslimischen Gelehrten und Intellektuellen?
„Islam ist Frieden“, drückt dieser Satz, ausgesprochen von einem Ali-normal-Muslim, nicht eine Ablehnung von Gewalt im Namen der Religion aus? Drückt er nicht eine Abscheu vor Terroristen muslimischen Glaubens aus? Drückt er nicht einen Trotz gegenüber den Handlungen muslimischer Gewalttäter aus, die immer wieder das Gegenteil bekräftigen? Muslime, die überzeugt sind, dass der Islam eine Friedensreligion ist, sind nicht nur der Gewalt im Namen des Islam leid, sondern der Gewalt an sich. Damit sind sie die Adressaten einer sich den Herausforderungen der Zeit stellenden islamischen Friedenslehre und Lehre der Gewaltlosigkeit, wie sie der indische Gelehrte Maulana Wahiduddin Khan (geb. 1925) vertritt.
Maulana Wahiduddin Khan
Khan gehörte auf dem Subkontinent zunächst zu jenen Gelehrten, die sich für das ideologische Islamverständnis Maududis begeistern konnten. Ungefähr 1949 trat Khan in den indischen Ableger von Maududis Organisation ein, der Jamaat-e Islami Hind (Islamische Gemeinschaft Indiens). Maududi predigte, schrieb und forderte in Pakistan eine islamische Revolution, wobei er hierbei mehr von der Französischen Revolution 1789 und der Oktoberrevolution 1917 inspiriert war als vom Qurʾān. Als Khan dies erkannte, distanzierte er sich von Maududi und dessen „politischer Lesart von Religion“45. Es sei nicht rechtens, politische Begriffe der Moderne auf den Propheten Muhammad zu übertragen und anachronistisch zurückzuprojizieren. Der Prophet sei kein politischer Führer und die umma keine Partei oder revolutionäre Bewegung gewesen, wie es so oft in Maududis Schriften heißt. Khan warnte, dass durch eine solche Umwandlung des Islam die Religion der politischen Manipulation ausgeliefert sei.46 Schließlich verließ der Gelehrte ca. 1965 die Organisation, um sich dann für eine kurze Zeit bis 1975 der apolitischen innerislamischen Missionsbewegung Tabligh Jamaat anzuschließen.47
Unabhängig davon gründete Khan 1970 in Delhi das Islamische Zentrum und 2001 das Zentrum für Frieden und Spiritualität, die beide einer islamischen Friedenstheologie und Aufklärungsarbeit verpflichtet sind. Als Autor von weit über 200 Büchern und Herausgeber der Zeitschrift ar-risāla (Die Botschaft) seit 1976 wurde er für sein Bemühen für Frieden zwischen den Religionen und gesellschaftliche Harmonie im Jahre 2000 mit dem Padma Bhushan, dem dritthöchsten indischen Zivilorden, und 2010 mit dem Rajiv-Gandhi-National-Sadbhavana-Preis, einer zivilgesellschaftlichen Auszeichnung, geehrt. Die Georgetown Universität in Washington zählte ihn im Jahr 2009 zu den 500 einflussreichsten Muslimen weltweit und bezeichnete ihn als den spirituellen Botschafter der Welt.48
Der indische Gelehrte ist sich bewusst, dass Gewalttätigkeit im Namen des Islam ein vielschichtiges Problem ist. Man darf es nicht ausschließlich theologisieren. Zugleich existiert ein entsprechendes Lehrgebäude, das im 20. Jahrhundert im Zuge der Dekolonisation größtenteils von Laien aufgebaut wurde. Die Utopie eines weltweiten theokratischen Staates, der alle Menschen gleich und gerecht behandelt, barg in sich stets ein Element des Ressentiments: Die einst Ohnmächtigen kehren zurück, um ihrerseits Rache an ihren ehemaligen Unterdrückern, den Kolonialmächten, zu nehmen, indem sie ihrerseits einen imperialistischen Staat errichten. Dies war also keinesfalls eine konstruktive Botschaft für das Morgen, sondern ein Sicheinfügen in die Spirale der Gewalt.
Khan sieht es als seine Pflicht an, hierüber eine innerislamische Diskussion anzustoßen in der Hoffnung, dieses Gebäude zum Einsturz zu bringen und somit Gewalttätern ihre Legitimationsgrundlage zu entziehen. Mit bloßen Distanzierungen von Gewalttaten, so Khans Position, sei es nicht getan. Das Problem von Gewalt im Islam müsse schonungslos untersucht, seine Zusammenhänge analysiert und eine Alternative angeboten werden, die über den Tag hinausreicht. Nur so könne ein muslimischer Gelehrter seiner Verantwortung für die konstruktive Mitgestaltung dieser Welt gerecht werden.49
Die Glorifizierung von Gewalt
Anthropologisch geht der Gelehrte von der Prämisse aus, dass der Mensch in sich sowohl ein Gewaltpotenzial als auch ein Friedenspotenzial besitzt. Je nachdem, zu welchem Selbstverständnis der Mensch über seine Rolle auf Erden gelangt, entwickelt er entweder eine Lebensweise, in der das Primat des Stärkeren oder das Primat der Barmherzigkeit gilt. Die jeweilige Lebensweise schafft wiederum eine entsprechende Kultur der Gewalt oder des Friedens.50
Nach Khan dominiert seit den frühesten Tagen der Menschheit bis in unsere heutige Zeit hinein eine Kultur der Gewalt, die sich in der Bewunderung für Kriege und Militärführer zeige. Bereits im Kindesalter werde man global auf diese Kultur geeicht, wenn im Geschichtsunterricht ausführlich die großen Militärkonflikte seit frühester Zeit und deren Strategen behandelt werden, während Friedenslehrer und Friedensstifter unberücksichtigt bleiben. Dadurch werde Kindern vermittelt, dass Militär und Krieg etwas Bedeutsames und militärische Führer Helden seien.51
Die muslimisch geprägte Welt stelle hierbei keine Ausnahme dar. Verbunden mit der raschen Expansion des Islam nach dem Tod des Propheten Muhammad 632, setzte zur Zeit der Umayyaden- (661–750) und der Abbasidendynastie (750–1517) die Entwicklung ein, das muslimische Heer zu motivieren, indem die Schlachten zur Zeit des Propheten zwischen der Oase Medina und der Handelsstadt Mekka glorifiziert wurden. Im Zuge dessen wurde der Prophet Muhammad als überragender Militärführer stilisiert. Prophetenbiografien erhielten den Titel maġāzī, was zu Deutsch militärische Unternehmungen bedeutet.52 So entstand im kulturellen Gedächtnis der Muslime der Eindruck, die islamische Frühgeschichte sei eine ununterbrochene Geschichte von Kriegen, Siegen und Eroberungen gewesen. Die Folgen waren, dass die muslimische Gemeinschaft den Glauben mit dem Anspruch verband, stets eine siegreiche, erfolgreiche und fortschrittliche zivilisatorische Kraft zu sein.53
Dieses etablierte Geschichtsbild wird nun von Maulana Wahiduddin Khan infrage gestellt. Er weist nach, dass der Prophet Muhammad an vier Kampfhandlungen beteiligt war, die der Verteidigung der Bevölkerung von Medina, nicht aber der Ausbreitung der Religion des Islam dienten. Es handelt sich bei ihnen um die Schlacht von Badr im Jahre 624 (2 n. H.), die Schlacht von Uhud im Jahre 625 (3 n. H.), die Schlacht von Khaibar im Jahr 629 (7 n. H.) und die Schlacht von Hunain im Jahr 630 (8 n. H.). Die Zeitabstände zwischen diesen Kampfhandlungen erwecken nicht den Eindruck, als wäre die Frühzeit des Islam eine endlose Aneinanderreihung von Schlachten gewesen. Die Dauer der Kampfhandlungen all dieser Schlachten zusammengenommen betrug 1½ Tage. Der indische Gelehrte erinnert daran, dass das Prophetentum Muhammads fast 23 Jahre, genauer, 8.130 Tage, währte.