Gewaltlosigkeit im Islam. Muhammad Sameer Murtaza
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Wehre das Böse mit Gutem ab! (…) (23:96)
Und wer führt bessere Rede, als wer zu Gott einlädt und das Rechte tut und spricht: „Ich bin einer der Gottergebenen?“ Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden. (41:33–34)
Der Gläubige soll sich auch nicht dazu verführen, provozieren und hinreißen lassen, auf erlittenes Leid mit Gegengewalt zu reagieren, sondern er soll die Notwendigkeit des Leids erkennen, um hierdurch ein Gefühl der Scham im Aggressor zu wecken. Dieser soll in sich zu der Einsicht gelangen, dass er in dem Moment, in dem er einem anderen Menschen schadet, seine eigene Menschlichkeit verrät. Daher soll der Muslim Leid mit Standhaftigkeit (ṣabr) begegnen86 und auf Gott vertrauen, der im Qurʾān verspricht:87
Doch wahrlich, mit (jeder) Schwierigkeit kommt (auch) Erleichterung! (94:5)
O ihr, die ihr glaubt! Seid standhaft und wetteifert in Geduld und haltet aus und fürchtet Gott, damit es euch wohl ergeht. (3:200)
Ein weiteres Charakteristikum dieser Methode ist, dass sie sich nicht gegen die Personen richtet, die das Böse tun, sondern nur gegen deren Handlungen. Der gewaltlose Aktivist soll nie vergessen, dass sein Gegenüber ebenso mit einer transzendenten Würde versehen ist, auch wenn er sich nicht ihr entsprechend verhält. Durch das Ertragen von Leid signalisiert der Gläubige seinem Gegenüber, dass er ihn in seinem Menschsein nicht aufgeben wird, dass selbst wenn er ihm jetzt schadet und verletzt, der gewaltlose Aktivist die Hoffnung hegt, dass wenn der Aggressor zu seinem Menschsein wiedergefunden hat, die zerbrochene menschliche Gesellschaft wiederhergestellt werden kann sowie Versöhnung und Freundschaft möglich sind.88
Ein anderes Zusammensein in einer globalisierten Welt hält Maulana Wahiduddin Khan für ausgeschlossen. Die Welt ist geprägt durch Verschiedenheit. Wir alle sind erst einmal, bevor wir uns irgendeiner Religion oder Nationalität zuordnen, Weltbürger mit einer Weltverantwortung für die gesamte Menschheit. Weltgemeinschaft, so Khan, bedeutet menschliche Einheit in der Vielfalt, denn diese sei ein unauslöschbares Charakteristikum menschlichen Lebens. Wer diesen Gedanken verinnerliche, der würde andere in ihrem Anderssein belassen, und dies führe zum Frieden zwischen den Menschen.89 Frieden wiederum sei Voraussetzung für die Entstehung von Kultur und Zivilisation, all das, was der muslimischen Welt heute fehle, was sie aber einst besaß.90 Daher sollten Muslime sich jeglichen chauvinistischen Denkens entledigen und zurückkehren zum Humanum des Qurʾān, der die Geschwisterlichkeit aller Menschen trotz ihrer Verschiedenheit verkündet:91
O ihr Menschen! Fürchtet eueren Herrn, Der euch aus einem (einzigen) Wesen erschuf und aus ihm seine Gattin und aus ihnen viele Männer und Frauen entstehen ließ. Und seid euch Gottes bewusst, in Dessen Namen ihr einander bittet, und eueren Verwandtschaftsbindungen. Siehe, Gott wacht über euch. (4:1)
Alle Menschen sollten im Geiste dieser Geschwisterlichkeit zusammenleben.92 Das bedeutet: Solange ein Mensch sich in erster Linie durch eine Gruppenzugehörigkeit und erst in zweiter Linie durch sein Menschsein definiert, solange bleibe nicht nur derjenige, der nicht zur eigenen Gruppe gehört, ein Fremder, sondern der Mensch bleibe auch sich selber ein Fremder. Erkennt der Mensch sich aber zunächst einfach als Mensch, dann sieht er auch in dem anderen seinen Mitmenschen, der nicht anders ist als er selber. Nur die Glaubensvorstellungen, die Denkmuster, die Normen und Sprachen sind verschieden. Durch dieses Erlebnis erfahre der Mensch, was Menschlichkeit bedeutet. Er entdeckt den Einen Menschen.93
In diesem Zusammenhang weist der indische Gelehrte auch die Vorstellung zurück, die Muslime seien die einzige heilsgewisse Religionsgemeinschaft. Der Islam erhebe keinen Anspruch auf religiöse Exklusivität, sondern das Heil sei gekoppelt an drei Bedingungen: 1) Glaube an den einen und einzigen Gott, 2) rechtschaffendes Handeln im Leben und 3) Glaube an den Jüngsten Tag:94
Siehe, die da glauben, auch die Juden und die Christen und die Sabäer – wer immer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und das Rechte tut, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn. Keine Furcht kommt über sie, und sie werden nicht traurig sein. (2:62)
Nach Khans Ansicht ist der Islam aus seinem Selbstverständnis heraus ein Teil der monotheistischen Weltbewegung. Weder würde er vereinfacht aussagen, alle Religionen seien gleich, noch würde er das Heil vereinnahmen. Aus dieser Position heraus wäre die Akzeptanz anderer Religionen bestens gewährleistet, wobei er sich auf folgende Verse aus dem Qurʾān stützt:95
Kein Zwang im Glauben! Klar ist nunmehr das Rechte vom Irrtum unterschieden. Wer die falschen Götter verwirft und an Gott glaubt, der hat den festesten Halt erfasst, der nicht reißen wird. Und Gott ist hörend und wissend. (2:256)
Euch euer Glaube und mir mein Glaube! (109:6)
Darüber übereinzukommen, nicht übereinzustimmen, so Khan, würde eine Harmonie zwischen religiösen Menschen etablieren.96
Braucht Frieden Gerechtigkeit?
Der gewaltlose Ansatz von Maulana Wahiduddin Khan beinhaltet auch die Vorstellung, dass Frieden nicht immer einhergehen muss mit Gerechtigkeit. Die Schaffung und Erhaltung des Friedens sei höher zu werten als die Durchsetzung von Gerechtigkeit.97
Mit dieser Argumentation rechtfertigt der indische Gelehrte in seinen Schriften auch die Kolonisierung weiter Teile der muslimischen Welt. Er sieht in den europäischen Imperialmächten die Überbringer von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, von dem die Muslime hätten profitieren können. Doch stattdessen hätten sie die Fremdherrschaft irrtümlicherweise als Unterdrückung wahrgenommen. Das Bestreben nach Emanzipation, Autarkie und Selbstbestimmung hätte allerorts in der muslimischen Welt antikoloniale und damit auch antiwestliche Bewegungen hervorgebracht, die schließlich die Kultur der Gewalt nur weiter gefestigt hätten.98
Khan rechtfertigt so nicht nur den Kolonialismus und verklärt ihn zu einer Zivilisierungsmission, sondern er erklärt die Opfer des europäischen Imperialismus zu den Schuldigen, da sie sich gegen die Fremdbestimmung zur Wehr gesetzt hätten.99 So wettert Khan gegen die Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani und Muhammad Iqbal ebenso wie gegen die Ideologen Hasan Al-Banna (1949), Abul Aʿla Maududi, Sayyid Qutb und Ruholla Khomeini (gest. 1989).100 Der Gelehrte begibt sich damit nicht nur in Widerspruch, dass er an anderer Stelle Al-Afghani als einen großen Denker des Islam lobt,101 sondern auch mit seiner Bewunderung für Gandhi, der sich ebenso gegen die britische Fremdherrschaft in Indien erhob.
Ebenso weist er Kritik an der US-Invasion des Iraks im Jahre 2003 zurück.102 Wie schon zuvor den Kolonialismus betrachtet Khan scheinbar auch den Krieg im Irak lediglich als einen Wechsel von politischer Macht, der gerechtfertigt sei durch die amerikanische Überlegenheit in Wissenschaft und Technik. Statt aufzubegehren, sollten Muslime diesen Herrschaftswechsel dankbar annehmen, um am westlichen Fortschritt zu partizipieren.103
Nahezu die gleiche Argumentationsführung überträgt der Gelehrte auf den Nahost-Konflikt. Er verengt ihn auf die Stadt Jerusalem und unterbreitet den Vorschlag, den religiösen vom politischen Aspekt Jerusalems zu trennen. Da politische Herrschaft stets im Wandel sei, sollten die Muslime die politische Dominanz Israels über Jerusalem akzeptieren, wobei der jüdische Staat Christen und Muslimen ungehinderten