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Und das haben wir auch geglaubt.
Ich schiebe mich in die erste Reihe zwischen Bernd und jemanden, den ich nicht kenne. Der verdreckte Anzug, mein nässendes Outfit und eine schwere Güllenote verschaffen mir eine Menge Platz.
„Mensch, wie siehs’ du denn aus?“, raunt Bernd mir zu und schüttelt dabei ohne jedes Verständnis den Kopf. „Wat hasse denn gemacht? Wo kommsse denn getz här?“
Ich winke nur schwach ab und vertröste ihn auf später.
„Wat stinksse denn so, sach ma?“
„Später, Bernie.“
„Tach, Heino. Beileid“, zischelt Sabine hinter Bernies breitem Rücken zu mir rüber. Heino! Das ist die gerechte Strafe für den schrecklichen Heinz-Norbert-Namen. Und dann nickt sie mit ernster Trauermiene, schiebt aber direkt nach: „Bisse auffe Fresse chefallen oder ham se dich vermöbelt?“
Ja, ja, ja …
Der fremde Mann neben mir gibt sich als Onkel Dieter zu erkennen. „Beileid. Kennze mich nich mehr? Onkel Dieter! Käa, wat biss du alt geword’n! Un so versaut!“ Netter Onkel. „Un am Stinken bisse, Heinz-Nobbät!“, sagt er noch vorwurfsvoll, schnüffelt mir dreist am ruinierten Anzug rum und verzieht angewidert das Gesicht. Aber dann nickt auch er nachdenklich zum Sarg hin und wird anständigerweise doch noch ganz traurig. „Ach, die arme Hilde. Hat se den Griffel abgegeb’n. So plötzlich, woll?“
Ich nicke nur erschöpft.
Wirklich alle sind da. Und ich kenne keinen einzigen. Das ganze Dorf und das nächste Dorf und das übernächste wahrscheinlich auch noch. Außer Onkel Willi eben. Der nicht. Wegen dem drohenden Herzkasper. Meine Mutter kannten eben alle. Und hier gehörte sie hin. Mitten ins Sauerland, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hat und wo sie es auch dann erwischt hat.
Schlaganfall. Oder wie die hier im Sauerland es aussprechen: „Schlachanfall“, ungefähr so wie „Schlawwanzuch“, also Schlafanzug. Alle Silben so schlaff hintereinanderweg, ohne besondere Betonung einer einzelnen und alle ganz eng beeinander.
Schlachanfall. Sirene. Blaulicht. Notarzt. Tot.
Konnze nix mehr machen. Dat Hirn war schon minutenlang ohne Blut, woll!
Oh, Mann!
Ich versuche, mich vorsichtig nach allen Seiten umzublicken, was aber aus der ersten Reihe heraus nicht so einfach ist. Ist aber auch nicht nötig und ich will auch eigentlich keinen sehen. Ich habe sowieso alle ihre Blicke im Rücken. Alle. Und alle wollen wissen, was passiert ist, warum ich als Drecksau mit ’ner dicken Beule am Kopf hier erscheine und warum ich so alt geworden bin.
Geht euch nix an, jetzt wird getrauert.
Mein Blick geht noch mal kurz zu Bruder Bernie rüber und auch der nickt mir ganz traurig zu. Bernd ist rasender Reporter beim Schwattmecker Boten und in sein Ressort fallen auch die Traueranzeigen.
Dass ausgerechnet jetzt mitten in der Trauerfeier mein Handy klingelt, ist natürlich ’ne ganz blöde Sache. Und dann noch mit dem selbst ausgesuchten Klingelton „Live and let die – James Bond“. Oh, Mann, ich hatte es doch stummgeschaltet, als ich hinter Düsseldorf auf die A 46 gefahren bin, um tatsächlich mal einen Tag Ruhe zu haben vor den ewigen Agenturanrufen und mit meinem schönen Auto und Gedanken an meine Mutter allein zu sein!
Na, wenigstens funktioniert es noch trotz der unsanften Wasserung im Straßengraben. Hat sich wohl irgendwie wieder angeschaltet. Es ist eins von diesen ganz neuen elektronischen Wunderwerken mit Internet, Fernsehen und Postkasten, Flaschenöffner und Taschenmesser. Ich kenne mich leider noch nicht so richtig damit aus. Erschrocken fingere ich also in der Sakkotasche danach und muss es doch glatt erst zweimal drehen, bis ich endlich diesen verdammten Knopf zum Ausschalten finde. Ein gefährliches Stöhnen geht durch den feindlichen Organismus. Viel darf ich mir nicht mehr erlauben.
„So live and let die!“ Ja, ja, ist ja gut. Kurz vor dem Ausschalten sehe ich noch, dass es die Nummer von Sven war, meinem Art Director bei Bölkemeyer & Friends. Muss warten. Ebenso wie die vierzehn Anrufe, die mein Postkasten, also, die Mailbox anzeigt. Jetzt wird erst mal anständig beerdigt.
Beerdigungen sind ja nix für mich. Das kann ich Ihnen versichern. Oder, wie man hier eben sagt: „Da kannsse ein’ drauf lassen.“ Die gurgelnde Orgel mit ihren jämmerlichen Trauerakkorden schafft mich fast. Und diese Lieder. Alles schwer in Moll und ab und zu mal ein glänzender Dur-Akkord mit einer schmierigen Sechste (das ist ein Akkordton), um die ewige Hoffnung nach dem finsteren Weg durchs Jammertal zu versinnbildlichen. Raffiniert. Und der düstere, von Schluchzern durchsetzte Murmelgesang der Trauergemeinde. Das ist einfach zu viel. Das wirkt. Und das machen die natürlich alles mit voller Absicht hier! Das ist ein großer Plan.
Man könnte einen geliebten Menschen auch einfach anständig und ohne dieses ganze gesülzte Brimborium unter die Erde bringen. Das wäre mir eigentlich lieber. Aber nein. Das geht eben nicht. Da wären wahrscheinlich auch alle enttäuscht. Was wäre denn eine Beerdigung ohne wenigstens ein paar echte Heulsusen? Man muss ja auch mal an die Bestatter denken. Das ist für die wie Applaus. Zugabe!
Ja, Sie vermuten richtig. Ich gehöre auf jeden Fall zur schwer gefährdeten Gruppe Heulanfälliger. Ich kann eigentlich gar keine Filme sehen, in denen jemand heiratet, stirbt oder bloß die Kerzen seiner Geburtstagstorte ausbläst. Das rührt mich, da bin ich emotional voll überfordert. Eigentlich kann man mich auf jede beliebige Beerdigung setzen von Leuten, die ich gar nicht kenne. Die entsprechende Drüsenstimulation wird auf jeden Fall umgehend in Gang gesetzt. Gehirn an Drüsen: Laufen lassen! Aber bei der Beerdigung seiner eigenen Mutter ist das noch mal ganz was Anderes.
Es ist aber auch alles darauf angelegt. Sarg, Blumen, Orgel, überhaupt die ganze traurige Schlichtheit der Friedhofskapelle … und neuerdings eben diese Bilder neben oder über dem Sarg. Das ist der letzte Schrei der Bestattungsindustrie und ihrer immer erfolgreicher werdenden Shows, scheint mir. Das mit den Bildern zieht auf jeden Fall. Wenn man sich bis dahin noch mit gelegentlichem Schneuzen über Wasser gehalten hat, dann geben einem die Bilder der Verstorbenen den Rest. Jetzt heul endlich, dazu bist du doch schließlich gekommen!
Aber das Bild, das sie hier von Mutter ausgestellt haben, ist wirklich der Wahnsinn. Naja, wie soll ich sagen? Eigentlich ist es zum Brüllen. Meine Güte, wo haben die das denn bloß her?, denke ich erschrocken. Es zeigt Hilde Flottmann, wie sie sich nur zu ganz besonderen Feiertagen herausgeputzt, „zurechtgemacht“ hatte, wie sie eben immer sagte. Wie ein Pfingstochse, schießt mir der natürlich sehr unpassende Vergleich durch den dröhnenden Schädel. Entschuldigung. Das hat auch mit dem Schock zu tun.
Das muss direkt nach einem ihrer seltenen Friseurbesuche gewesen sein. Erst Friseur – und dann sofort nach nebenan zum Fotografen, bevor die ganze Pracht wieder zusammenfällt. Das halten wir mal direkt fest. So kriegen wir die Frau doch nie wieder hin. Ihre Haare sind in gewaltige Dauerwellen gelegt mit einem leichten Blaustich, darüber wölbt sich ein topfartiger, blauer Hut mit einer weißen Feder und unter diesem Hut steckt ihr rundes Gesicht mit diesem aufmüpfigen Blick, der mir zu sagen scheint: „Nich ma heute bisse pünktlich, Düsseldorfer Gung! Na, Hauptsache, du biss überhaup’ da an meinem Ährentach. Abba wie du aussiehs’!“
Ach, tut mir leid, Mutter. Aber, du siehst, heute bin ich tatsächlich endlich mal da. Ja. Tief durchatmen, denn jetzt bin ich nur noch ganz wenige Millimeter davon entfernt, wirklich mit aller Kraft unter dem strengen Blick von Mutter einfach loszuheulen. Und dann kommt wieder die Orgel. Gleichmäßig atmen. Wie wär’s mit Banjo