Jonathan Auf Null. Aristidis Selalmazidis
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Stella, die mittlerweile hinter ihm steht, liest das Ende der E-Mail laut vor: →→Wir haben für den Moment kein Geld mehr, das wir einsetzen können, doch unsere Liebe, unser Mitgefühl und unsere Lebenskraft werden uns weiterbringen. Ihr müsst nur daran glauben. Haltet zusammen. Bestehlt euch nicht gegenseitig. Schützt euch vor Räubern, aber vermeidet jede Gewalt, auch gegen Banker und Politiker. Alles wird sich finden. In sieben Tagen werden wir der Welt ein neues, schönes Gesicht geben.←← Jonathan schaut Stella abwartend an. Sie lächelt ihn an: →→Magst du Baguettes holen?←← Jonathan geht gespannt zu Fuß aus dem Haus.
„VERTRAUT AUF
DAS GUTE IN EUCH
UND IN DEN
ANDEREN.“
Auf dem Weg zum Bäcker schaut er links und rechts in die Rue Bellevue hinein. Die Straße verdankt ihren Namen der schönen Aussicht auf den Hafen und die Bucht von Cavalaire. Alles ist ruhig, denn der Ort erwacht langsam wie an jedem anderen Sommertag. Die Läden scheinen ganz normal zu öffnen. Die Routine siegt, und was soll man auch sonst machen. Der Kioskbesitzer an der Ecke hat jedenfalls aufgemacht und bietet auch heute wie gewohnt die neuesten Zeitungen neben den Tabakwaren an. Der farbige Mittvierziger steht mit den Händen in den Taschen vor seinem Geschäft. Seine Frau besucht ihn gerade mit den Kindern, auf dem Weg zum Kindergarten. Seine Gelassenheit wirkt ansteckend. Sie strahlt offenbar beruhigend auf das ganze Viertel aus. Vielleicht ist es auch die französische achselzuckende Gelassenheit, die sich in der Sonne Südfrankreichs seit jeher prächtig entwickelt hat und auch Zugereiste anstecken kann. Die Leute aus der Nachbarschaft und den Häusern am Hang finden sich wie viele der Urlauber langsam dort ein, um Neuigkeiten zu erfahren und sich auszutauschen. Es werden immer mehr Menschen. Die Straßen füllen sich. Die Stimmung ist dennoch ruhig. Es ist zu früh, um sich aufzuregen, zu früh für eine Revolution. Die Meinungen und Fragen gehen in eine Richtung. →→Es musste ja so kommen. Wie geht es jetzt weiter? Was sollen wir tun?←← - →→Nichts, sagt der Kioskbesitzer jedem, der es wissen will. →→Wir warten einfach die nächste Botschaft ab und verhalten uns wie gute Menschen.←← Dazu gibt es nicht viel zu sagen, was auch? Außer Floskeln wie: →→Das war doch klar, dass das irgendwann schiefgeht.←← - →→Die Politiker sind an allem schuld.←← - →→Und womit bezahlen wir jetzt?←←, fragt Suzanne, die Frau des Gärtners, am Kreisverkehr ängstlich. Das kleine Mädchen an der Hand einer bronzegebräunten blonden Urlauberin aus Paris zeigt mit ihrer kleinen Hand auf, wie es die Kinder in der Schule machen. Die Erwachsenen machen den Kreis vor dem Kiosk auf, indem sie einen Schritt zurücktreten. Es muss das Strahlen sein, das von diesem blassen, freundlichen Gesicht ausgeht und sich gegen die Energie der erwachsenen Gruppe durchsetzt. Die kleine Marie schaut sich um, den Großen tief in die Augen und verkündet: →→Wie es in der E-Mail steht. Ihr bezahlt mit eurem Namen und eurem Versprechen. Ihr könnt ja noch das alte Geld dazutun. Für alle Fälle.←←Das sitzt. Es fällt auch niemandem sonst etwas Besseres ein. Nicht einmal Herrn Professor Berger, und der hat eigentlich auf alles eine kluge Antwort. Madame Bourse nickt als Erste. Die anderen folgen ihrem Beispiel. Man beschließt, dass die Kleine ein kluges Kind ist, und verspricht sich, Ruhe zu bewahren und Mensch zu bleiben.
An diesem Morgen ist die viel beschäftigte, zivilisierte Welt in den Städten deutlich mehr aufgeregt. Der Ausnahmezustand herrscht in den Straßen, Firmen und Institutionen. Die Leute sind kaum dazu zu bewegen, normal ihre Arbeit zu verrichten. Das Ende mit Schrecken ging um wie ein Lauffeuer. So, das war’s wohl mit dem Kapitalismus und der sozialen Marktwirtschaft, oder wie? Hingerichtet von den Banken, der zügellosen Gier und der Untätigkeit. Nicht alle Leute bewahren Haltung wie in Cavalaire-sur-Mer. In Paris sieht das schon etwas anders aus. In London hält man sich erprobt englisch, doch man hört von Selbstmorden in Chefetagen und Hamsterkäufen von den ganz Ängstlichen. Die Pessimisten sind ja auch nicht zu vergessen. Warum auch immer, die Katastrophenmeldung wird von der geheimnisvollen, hoffnungsgebenden E-Mail überstrahlt. Das Krisengerede hat die Menschen zuletzt schon gelangweilt, und die Welt der Politiker war schon lange eine andere als die Welt der Bürger. →→Das wurde auch Zeit, dass endlich etwas passiert und die da oben von den Stühlen rücken müssen.←← Serge lässt die Worte wirken. Er sitzt rauchend an seinem Stammplatz im Café der Place des Lices und zeigt mit der rechten, die Zigarette haltenden Hand auf den Platz. Seine Zuhörer nicken, die Kellnerin stemmt die Hände in die schwungvollen Hüften und erwidert: →→Das ist wahr. Außerdem geht es immer irgendwie weiter.←←
Etwas später sprechen Jonathan und Stella über die Ereignisse. →→Die Welt der Erwachsenen steht kopf←←, sagt Jonathan. →→Wir Kinder haben keine Angst.←← Nick steht plötzlich neben ihm. Sein achtjähriger Sohn ist gerade nach Hause gekommen und vermeldet schon in der Tür ganz cool,→→dass das Geld nichts mehr wert sei und die Leute sich jetzt mehr helfen würden.←← Die Segelschule hat ihn und alle anderen Schüler eine Stunde früher entlassen. Die Lehrer sind besorgt gewesen, die Kinder aber sind fröhlich und mit unerschütterlicher Lebensfreude nach Hause gegangen. Nicks Schwester Sophia kommt dazu und fragt mit dem gelangweilten Gesichtsausdruck eines Teenagers, was es heute Abend zu essen gibt. →→Weißt du es schon?←←, erwidert Stella knapp. Sophia nickt und zuckt mit den Schultern. Jonathan legt den Arm um ihre Schultern und drückt seine Tochter liebevoll an sich. Er weiß, dass sie nicht leicht über ihre Gefühle spricht. An frühes Schlafengehen ist in der ersten Nacht verständlicherweise nicht zu denken. Einige machen ein Fest daraus. Jonathan holt den besten Rotwein aus dem Weinregal, Stella hat den Kindern ihre Lieblings-Burger gezaubert und Jonathan hat noch selbst gemachte Crème brûlée beigesteuert. Ausgelassen und befreit unterhalten sich die vier über alles Mögliche. Sophia schimpft über ihre Lehrerin, Nick meint, die Oma brauche eine neue Brille, und Jonathan baut gedanklich noch einmal den Pool hinter dem Haus. Das Gefühl hält alle zusammen, es geht um die Zeit miteinander.
Nur 24 Stunden später erscheint die zweite E-Mail des geheimnisvollen Verfassers. Das war nicht die erste Ansage, aber die Geduld der Menschen soll lieber nicht überstrapaziert werden. →→Verborgen vor der Öffentlichkeit haben sich lange vor dem Zusammenbruch einige der klügsten, mutigsten und auch einige der reichsten Menschen in einem Kreis zusammengefunden und ohne Einfluss der alten Machtstrukturen eine Lösung für den Tag der Tage entwickelt. Unsere Experten im Netzwerk haben vorausgesehen, dass wir an diesen Punkt kommen werden. Individuen mussten vorausdenken. Wir haben gehandelt und Vorbereitungen getroffen, um unnötigen Schaden von der Welt abzuwenden und um die historische Chance zu nutzen.←← Der Verfasser der ersten Mail hat dies zuwege gebracht. Er oder sie, das ist noch ungewiss, hat offenbar ein exzellentes Netzwerk gepflegt, echte Experten in kürzester Zeit kontaktiert und dazu ausgesuchte Kinder aus seinem Umfeld als Berater verschwiegen zusammengebracht. Jeder hat einen heiligen Schwur gegeben, nichts zu verraten. →→Es ist ein Spiel, es geht um die Zukunft der Welt.←← Die Kinder sind in dem kreativen Spiel gebeten worden, die alten Regeln auf den Kopf zu stellen und neue Regeln zu empfehlen. Die Welt der Erwachsenen steht doch schon kopf. Warum nicht diejenigen fragen, die unbeteiligt und mit unverstelltem Blick sind? Wer die Idee im Kreis zuerst ausgesprochen hat, kann im Nachhinein keiner mehr so richtig sagen. Die Idee ist genial und einfach. Wie alle genialen Einfälle, klug, aber nicht kompliziert. →→Führende und ehrliche Köpfe haben uns in dem kühnen Vorhaben bestärkt, die Welt wirtschaftlich durch eine fair reglementierte digitalisierte Tauschbörse miteinander zu vernetzen und eine neue Welt-Währung einzuführen.←← Der Initiator und Gründer des Kreises, der zu einem Netzwerk herangewachsen ist, ist ein Visionär, und er handelt entschlossen.
→→Das Ganze ist in einem freien humanistischen Geist geboren worden, und so soll es auch gemacht werden. In einem offenen Netzwerk wie das ursprünglich freie Internet und die freien Softwarelösungen, ohne die Kontrolle von wirtschaftlicher und politischer Macht. Die alten Machtgruppen werden sich wehren und ihren Einfluss nicht