Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen - Selma Lagerlöf страница 22
Aber weil er also den Frieden des Spieltages gebrochen hatte, wurde schwere Strafe über Smirre verhängt, so daß er sein ganzes Leben lang bereuen mußte, daß er seine Rachgier nicht hatte unterdrücken können, sondern es versucht hatte, auf diese Weise Akka und ihrer Schar zu nahe zu kommen. Schnell wurde er von einer Schar Füchse umringt und alter Sitte gemäß verurteilt. Der Urteilsspruch aber lautet: „Wer immer den Frieden des großen Spieltages bricht, wird des Landes verwiesen.“ Kein Fuchs wollte das Urteil mildern, denn sie wußten alle, sobald sie etwas derartiges versuchten, würden sie in demselben Augenblick vom Spielplatz verjagt und ihnen nicht erlaubt werden, ihn je wieder zu betreten. Also wurde das Verbannungsurteil ohne Widerspruch Smirre kundgetan. Es wurde ihm untersagt, in Schonen zu verbleiben. Er wurde von seiner Frau und von seinen Verwandten geschieden, von Jagdrevier, Wohnung und von den Schlupfwinkeln, die er bisher zu eigen gehabt hatte, und mußte sein Glück in der Fremde versuchen. Und damit alle Füchse in Schonen wissen sollten, daß Smirre in dieser Landschaft vogelfrei war, biß ihm der älteste von den Füchsen die Spitze seines rechten Ohrs ab. Sobald dies getan war, begannen die jungen Füchse blutdürstig zu heulen und sich auf Smirre zu werfen. Es blieb ihm nichts andres übrig, als die Flucht zu ergreifen, und mit allen jungen Füchsen an den Fersen rannte er vom Kullaberg fort.
Alles das geschah, während die Birkhühner und die Auerhähne miteinander wetteiferten. Aber diese Vögel vertiefen sich in solchem Grade in ihren Gesang, daß sie weder hören noch sehen, und sie hätten sich auch gar nicht stören lassen.
Kaum war der Wettstreit der Waldvögel beendet, als die Edelhirsche von Häckeberga vortraten, ihr Kampfspiel zu zeigen. Mehrere Paare Edelhirsche kämpften zu gleicher Zeit. Sie stürzten mit großer Kraft aufeinander los, schlugen donnernd mit den Geweihen zusammen, so daß sich deren Stangen ineinander flochten, und einer versuchte den andern zurückzudrängen. Heidekrautbüschel flogen unter ihren Hufen auf, der Atem stand ihnen wie Rauch vor dem Maule, aus ihrer Kehle drang unheimliches Gebrüll, und der Schaum floß ihnen am Bug hinunter.
Ringsum auf den Hügeln herrschte atemlose Stille, während die streitkundigen Hirsche im Treffen waren, und bei allen Tieren regten sich neue Gefühle. Alle und jedes einzelne fühlten sich mutig und stark, voll wiederkehrender Kraft, vom Frühling neu geboren, hurtig zu jeder Art Abenteuer bereit. Sie fühlten keinen Zorn gegeneinander, doch hoben sich überall Flügel, Nackenfedern sträubten sich und Krallen wurden gewetzt. Wenn die Hirsche von Häckeberga noch einen Augenblick weitergekämpft hätten, würde auf allen Hügeln ein wilder Kampf entbrannt sein, weil bei allen Tieren ein brennender Eifer um sich gegriffen hatte, zu zeigen, daß auch sie voller Leben seien, daß die Ohnmacht des Winters vorüber sei, daß Kraft ihre Adern schwelle.
Aber die Edelhirsche beendigten ihren Kampf gerade im rechten Augenblick, und schnell ging ein Flüstern von Hügel zu Hügel: „Jetzt kommen die Kraniche!“
Und da kamen die grauen wie in Dämmerung gekleideten Vögel, mit langen Federbüschen in den Flügeln und rotem Federschmuck im Nacken. Die Vögel mit ihren langen Beinen, ihren schlanken Hälsen und ihren kleinen Köpfen glitten in geheimnisvoller Verwirrung von ihrem Hügel herab. Während sie vorwärts glitten, drehten sie sich halb fliegend, halb tanzend im Kreise herum. Die Flügel anmutig erhoben, bewegten sie sich mit unfaßlicher Schnelligkeit. Es war, als spielten graue Schatten ein Spiel, dem das Auge kaum zu folgen vermochte. Es war, als hätten sie es von den Nebeln gelernt, die über die einsamen Moore hinschweben. Ein Zauber lag darin; alle, die noch nie auf dem Kullaberg gewesen waren, begriffen nun, warum die ganze Versammlung ihren Namen von dem Kranichtanz hat. Es lag eine gewisse Wildheit darin, aber das Gefühl, das diese erweckte, war eine holde Sehnsucht. Niemand dachte jetzt mehr daran, zu kämpfen. Dagegen fühlten jetzt alle, die Beflügelten und die Flügellosen, einen Drang in sich, ungeheuer hoch hinaufzusteigen, ja bis über die Wolken hinauf, um zu sehen, was sich darüber befinde, einen Drang, den schweren Körper zu verlassen, der sie auf die Erde hinabzog, und nach dem Überirdischen hinzuschweben.
Eine solche Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nach dem hinter dem Leben Verborgenen fühlten die Tiere nur einmal im Jahre, und zwar an dem Tag, wo sie den großen Kranichtanz sahen.
6 Im Regenwetter
Mittwoch, 30. März
Nun kam der erste Regentag während der Reise. Solange sich die Wildgänse in der Nähe des Vombsees aufgehalten hatten, war schönes Wetter gewesen; an demselben Tag, wo sie ihre Reise nach dem Norden fortsetzten, begann es zu regnen, und der Junge saß stundenlang tropfnaß und vor Kälte zitternd auf dem Rücken des Gänserichs.
Am Morgen, als sie fortzogen, war es hell und warm gewesen. Die Wildgänse hatten sich hoch in die Luft erhoben, gleichmäßig und ohne Eile in strenger Ordnung mit Akka an der Spitze, und die übrigen in zwei scharfen Linien hinter ihr, flogen sie dahin. Sie hatten sich keine Zeit genommen, den Tieren auf den Feldern kleine Bosheiten zuzurufen, aber da sie nicht imstande waren, sich ganz still zu verhalten, ließen sie unaufhörlich im Takt mit ihren Flügelschlägen ihren gewöhnlichen Lockruf ertönen: „Wo bist du? Hier bin ich! Wo bist du? Hier bin ich!“
Alle beteiligten sich an diesem einförmigen Rufen, das sie nur ab und zu unterbrachen, um dem zahmen Gänserich die Wegweiser zu zeigen, nach denen sie sich richteten. Die Zeichen auf dieser Reise waren die vereinzelten Erhöhungen des Sinderöder Bergrückens, der Herrenhof Ovesholm, der Kristianstädter Kirchturm, das Krongut Bäckawald, die schmale Landspitze zwischen dem Oppmannasee und dem Ivösee und dem schroffen Abhang des Ryßbergs.
Es war eine einförmige Reise gewesen; und als die Regenwolken allmählich auftauchten, dachte der Junge, das sei doch einmal eine Abwechslung. Früher, wo er die Regenwolken nur von unten gesehen hatte, waren sie ihm immer grau und langweilig vorgekommen, aber hoch droben zwischen ihnen zu sein, das war etwas ganz andres. Der Junge sah deutlich, daß die Wolken ungeheure Lastwagen waren, die berghoch beladen am Himmel hinfuhren; die einen waren mit riesigen grauen Säcken bepackt, andre mit Tonnen, die so groß waren, daß sie einen ganzen See fassen konnten, wieder andre furchtbar hoch mit großen Kesseln und Flaschen. Und nachdem so viele aufgefahren waren, daß sie den ganzen Himmelsraum füllten, war es, als habe ihnen jemand ein Zeichen gegeben, denn sie begannen alle auf einmal aus Kesseln, Tonnen, Flaschen und Säcken Wasser auf die Erde hinunterzugießen.
In dem Augenblick, wo die ersten Frühlingsgüsse auf die Erde prasselten, stießen alle die kleinen Vögel in den Gehölzen und auf den Wiesen solche Freudenrufe aus, daß die ganze Luft davon widerhallte und der Junge auf seinem Gänserücken erschreckt zusammenfuhr. „Jetzt bekommen wir Regen, der Regen bringt uns den Frühling, der Frühling gibt uns Blumen und grünes Laub, und die Blumen geben uns Raupen und Insekten, und Raupen und Insekten geben uns Nahrung! Viele und gute Nahrung ist das Beste, was es gibt!“ sangen die Vögelein.
Auch die Wildgänse freuten sich über den Frühlingsregen, der die Pflanzen aus ihrem Winterschlaf weckte und die Eisdecke auf den Seen zerbrach. Es war ihnen nicht möglich, noch länger so ernst zu bleiben wie bisher, und sie fingen an, lustige Rufe auf die Landschaft unter ihnen hinabzuschicken.
Als sie über die großen Kartoffelfelder, die bei Kristianstadt besonders gut sind, und die jetzt noch schwarz und kahl dalagen, hinflogen, riefen sie: „Wachet jetzt auf und bringet