Der Serienmörder von Paris. David King
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Der Betrug zahlte sich in vielfacher Hinsicht aus.
René-Gustave Nézondet, Buchhalter im Rathaus von Villeneuve-sur-Yonne, war laut den Ermittlungen Petiots ältester Freund. Sie begegneten einander 1924 bei einer Auktion, wo Petiot Möbel für sein gerade erworbenes dreistöckiges Haus in der Rue Carnot ersteigern wollte. „Wir empfanden eine unbeschreibliche Sympathie füreinander“, versuchte Nézondet das augenblickliche Gefühl der Kameradschaft zwischen den beiden Junggesellen zu beschreiben. „Mir gelang es nie, den Grund für die wortlose Anziehungskraft zu finden, die auf mich wie ein Magnet wirkte – entgegen jeder rationalen Erwägung, die mich eigentlich vor ihm hätte warnen müssen.“
Als die Neugier erst einmal geweckt war, besuchte Nézondet den neuen Freund, um ihn näher kennenzulernen. Petiot war höflich, eloquent, charmant, ein exzellenter Gesprächspartner und darüber hinaus sehr intelligent. Nach Aussage Nézondets konnte seine übersprudelnde Vitalität jedoch schnell versiegen und ihn in kindliche „Wutausbrüche und eine große Verzweiflung“ stürzen. Die beiden Männer genossen Wochenendausflüge zum Mittagessen in umliegende Dörfer, die Nézondet bezahlte. Sie verbrachten lange Stunden in Cafés, wobei Nézondet stets Wein und Petiot einen kleinen schwarzen Kaffee zu sich nahmen. Auch hier zückte Nézondet regelmäßig die Geldbörse.
1926, bei einer ihrer gemeinsamen Mahlzeiten, wandte sich Petiot plötzlich an seinen Freund: „Ich möchte in die Politik gehen.“ Diese Mitteilung kam so abrupt und unerwartet, dass Nézondet die Ernsthaftigkeit des Freundes anzweifelte. Doch Petiot ließ sich als Kandidat für die Stadtratswahl im Frühling nominieren und führte den Wahlkampf mit unnachgiebiger Härte. Er hatte sich für die Sozialisten aufstellen lassen, eine Partei, die sich in Villeneuve-sur-Yonne und in anderen Landesteilen Frankreichs Mitte der Zwanziger großen Zuwachses erfreute. Petiot sah seine Zukunft in genau dieser Partei. Die zunehmende Macht der „Mittellosen“, mit denen er sich identifizierte, würde die rivalisierenden Gegner allein schon aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit übertrumpfen.
Petiot war in seiner Praxis vielen Menschen der unteren Schichten begegnet. Aufmerksam nahm er ihre Sorgen wahr und ließ ihnen seine „kostenlose“ medizinische Versorgung zukommen. Im Fall seiner Wahl versprach er, die reichen und privilegierten Bürger stärker an den Kosten für das Gemeinwohl zu beteiligen, egal, ob es sich um ein neues Abwassersystem oder um Kinderspielplätze handelte. Seine Absichten und Pläne trafen auf offene Ohren. Petiot erwarb sich einen Ruf für seine lebhaften Vorträge, die sowohl inhaltlich ein weites Feld absteckten als auch eine offene Geisteshaltung ausdrückten. Sein Redefluss wurde jedoch manchmal durch ein bizarres, hemmungsloses Lachen gestört, das meist in unpassenden Momenten oder heiklen Situationen aus ihm herausbrach. Man verglich es mit dem gequälten Geheul eines Schiffbrüchigen, der alles verloren hatte.
Petiots exzentrisches Verhalten stand seinen Wahlchancen nicht im Weg, sondern stellte sich sogar als zweckdienlich heraus. Er war eine „Nachteule“, schlief wenig und hatte häufig Schwierigkeiten, sich nach einem aufgewühlten und euphorischen Stimmungshoch wieder zu beruhigen. Die ungebremste Energie nutzte er für den Wahlkampf. Häufig entstand der Eindruck, als würden seine Gedanken davongaloppieren und sich immer wieder auf ein neues Problem richten. Trotz der permanenten politischen Bemühungen führte er die Praxis weiter und ließ den Patienten nach außen hin kostenlose oder preiswerte medizinische Hilfe zukommen. Dabei verfeinerte Petiot seine Fähigkeiten als Arzt, sorgte durch sein Engagement für eine solide Basis ihm wohlgesonnener Bürger und ließ sich – wie bereits berichtet – insgeheim vom Staat dafür bezahlen.
Es überraschte niemanden, dass er schließlich gewählt wurde, allerdings verblüffte die große Zahl an Stimmen, die er bekommen hatte. Es war ein erdrutschartiger Sieg. Marcel Petiot, gerade mal 30, stand vor seiner Amtseinführung als Bürgermeister. Dieser Erfolg wurde dann allerdings noch von seiner Wahl zum Vertreter Yonnes im „Conseil Général“ (Generalrat) übertroffen, einem Amt, das dem Status eines amerikanischen Kongressmannes gleichkommt. Als ihm ein Freund gratulierte, meinte Petiot frei heraus: „Das ist noch gar nichts. Ich werde es weit bringen – sehr weit.“
DEN GANZEN ABEND ÜBER HABE ICH TELEFONANRUFE UND BERICHTE ERHALTEN. MITTLERWEILE IST ES OFFENSICHTLICH, DASS WIR IN EINEM MERKWÜRDIGEN FALL ERMITTELN, DESSEN TRAGWEITE NOCH NICHT ABZUSEHEN IST.
(Amédée Bussière, Polizeipräfekt)
Am Nachmittag des 12. März 1944 schlug der erste Zeitungsartikel über die grausige Entdeckung in der Rue Le Sueur auf den Straßen von Paris wie eine Bombe ein. Der knappe Bericht in der Paris-Midi fasste die wenigen zu der Zeit bekannten Fakten zusammen. Dem Artikel nach waren Angestellte der Gaswerke bei der Suche nach der Quelle eines eigenartigen Geruchs in das Haus eingedrungen und hatten „die verkohlten Überreste zweier Menschen“ in einem Ofen gefunden. Der Bericht enthielt keine näheren Details bis auf die weitere Falschmeldung, dass man verschiedene Landstreicher auf dem Gelände aufgefunden und einer von ihnen das Feuer entzündet habe.
Vor dem Haus Nummer 21 fand ein regelrechter Massenauflauf statt. Der Geruch – beschrieben als ein ekelerregender, süßlicher Gestank, der alles durchdrang – war nun noch schlimmer als in der vorangegangenen Nacht. Ein sich außerhalb des Anwesens aufhaltender Veteran des Ersten Weltkriegs erinnerte sich daran, dass er einige Tage mit fünf Leichen in einem Granattrichter gelegen hatte. „Nach zwei Tagen“, berichtete er Jean-François Dominique, einem jungen Journalisten der Toulouser Zeitung La Républic du Sud-Ouest, „stank es genauso wie hier.“
Ungefähr zwei Dutzend Polizeibeamte, die Gesichter vor Angst kreidebleich, versuchten vergeblich, die Menge aufzulösen. Hinter den Absperrungen führte Massu hochrangige Beamte der Stadt und der Polizei durch das Anwesen und zeigte ihnen, wo er „einen Haufen von Schädeln, Schienbeinen, Oberarmknochen, gebrochenen Oberschenkelknochen und weiteren menschlichen Überresten“ gefunden hatte. Währenddessen widmete sich ein Team von vier Männern der entsetzlichen Aufgabe, die einzelnen Körperteile aus der Löschkalkgrube zu bergen. Da Massus angewiderte Assistenten die nervenzermürbende Arbeit nicht übernehmen konnten, hatte der Kommissar Totengräber vom Friedhof Passy damit beauftragt.
Petiots Nachbarn unterhielten sich ausschließlich mit der Polizei. Einige Anwohner behaupteten, nicht zu wissen, dass die Nummer 21 bewohnt gewesen sei, zumindest nicht von „ehrenwerten Bürgern“. Andere deuteten auf das befremdliche Verhalten des Besitzers hin. Der Concierge eines nahegelegenen Hauses beschrieb Petiot, der sein Grundstück stets mit dem Fahrrad und einem Anhänger verließ oder anfuhr: Jedes Mal habe der Arzt nervös über die Schulter geblickt, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Die Concierge Marie Lombre aus Nummer 22 bekräftigte diese Aussage und fügte hinzu, dass der Mann fast täglich aufgetaucht sei und eine Baskenmütze und Arbeiterkleidung getragen habe. In dem Anhänger hätten sich häufig Möbel, Kunstgegenstände und weitere wertvolle Utensilien befunden. Allerdings konnte man es ihrer Aussage nach manchmal „nicht mit Genauigkeit“ sagen.
Victor Avenelle, ein 53-jähriger Professor der Romanistik, der im sechsten Stock der Rue Le Sueur Nummer 23 lebte, berichtete davon, dass er häufig beunruhigende Schreie und „Hilferufe“ gehört habe. Seit Weihnachten sei das drei oder vier Mal vorgekommen, meist zwischen 23 Uhr und Mitternacht, vielleicht auch gegen 1 Uhr morgens. Die Stimme habe immer weiblich geklungen. Count de Saunis, ein Bewohner des Hauses, konnte wegen der Schreie aus dem Gebäude oder einem merkwürdigen Geräusch, das wie das Schlagen mit einem Hammer anmutete, manchmal nicht schlafen. Andere Anwohner behaupteten, Frauengelächter und ein Geräusch, das an das Knallen von Champagnerkorken erinnerte, gehört zu haben, ja, sogar das Geräusch eines