Der Serienmörder von Paris. David King
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Nach den Worten des Historikers Alistair Horne erlebte Paris unter der Besatzung der Nazis die vier dunkelsten Jahre in der 2.000-jährigen Geschichte der Stadt. Für viele Pariser war es ein Alptraum an Tyrannei und Gewalt, was zu verzweifelten Fluchtanstrengungen führte – an denen sich ein Mann in ihrer Mitte unbarmherzig und skrupellos bereicherte.
Nachdem Massu das Haus durchsucht hatte, verhielt er sich – um es gelinde zu sagen – recht merkwürdig. Er machte sich weder direkt auf den Weg in die Rue Caumartin, um Dr. Petiot zu suchen, noch schickte er Ermittlungsbeamte dorthin. Massu ging nach Hause.
Ein französisches Gesetz, das bis zum 13. Dezember 1799 zurückreichte (den 22. Tag des dritten Monats des französischen Revolutionskalenders), untersagte der Polizei, Bürger mitten in der Nacht aufzusuchen, außer sie wurden direkt in das jeweilige Haus gebeten oder es handelte sich um einen Notfall wie etwa ein Feuer oder eine Überschwemmung. Artikel 76 der Konstitution des Jahres acht, wie man die Vorgabe nannte, war in Kraft gesetzt worden, um die nächtlichen Verhaftungen während des Terrorregimes zu unterbinden. Doch in einem Fall solcher Tragweite hätte Massu zumindest Männer außerhalb von Petiots Appartement postieren können. Offensichtlich musste es eine andere Erklärung für sein passives Verhalten geben.
Und in der Tat vermutete der Kommissar, dass die Rue Le Sueur Nummer 21 von der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei der Deutschen, genutzt worden war, die die Kontrolle der inneren Angelegenheiten Frankreichs an sich gerissen hatte. Die Gestapo, gegründet im April 1933, um die „Feinde des Reichs“ zu eliminieren und damit Hitlers Macht zu konsolidieren, residierte anfangs in einer ehemaligen Kunstschule in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Über die Jahre war sie dann von 300 auf 40.000 Mitarbeiter angewachsen und hatte ein Netz von Informanten über das ganze besetzte Europa gelegt. Im Namen von Recht und Ordnung hatte man die Gestapo mit nahezu allen Befugnissen ausgestattet: Spionage, Verhaftungen, Folter und sogar Mord. Die Agenten brauchten wegen ihrer Taten keine Strafverfolgung zu befürchten. Die Organisation stand über dem Gesetz, und es gab nicht die geringste Möglichkeit, ihr Tun auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen.
Massu hatte sicherlich seine Gründe, um eine mögliche Verbindung des Falls zur Gestapo zu vermuten. Nicht nur das Gemetzel, das erkennbar im Haus stattgefunden hatte, und die Brutalität am Tatort wiesen auf die Deutschen hin, sondern auch die Tatsache, dass die Geheimpolizei Büros im noblen 16. Arrondissement unterhielt. Gleich um die Ecke, in der Avenue Foch, lagen die Gestapo-Gebäude Nummer 31, 72, 84 und 85. Der deutsche Sicherheitsdienst (SD), der mit der SS in Verbindung stand, nutzte die Häuser Nummer 19–21, 53, 58–60 und 80 zusammen mit der Gestapo. In der Straße befanden sich zudem noch weitere Büros des Militärs, der Gegenspionage und der Partei.
Eine Hakenkreuzfahne wehte vom Gebäude gegenüber von Petiots Besitztum. Die Garage des Hauses Nummer 22 war von Albert Speers Organisation „Todt“ beschlagnahmt worden, einem riesigen Versorgungsunternehmen, das die Bauvorhaben im besetzen Europa überwachte und die Verantwortung für den Materialnachschub trug. In Paris kümmerte sich die Gruppe um Kleinigkeiten wie das Einschmelzen von Bronzestatuen für die Rüstung, aber auch um Großprojekte wie die Bereitstellung von Arbeitskräften für den Atlantikwall, errichtet als Verteidigungsbollwerk gegen die Invasion der Alliierten.
Die französische Polizei hatte keinerlei Möglichkeit, gegen die Gestapo und ihre Aktivitäten einzuschreiten. In einer Verfügung, unterzeichnet von SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Carl-Albrecht Oberg am 18. April 1943, musste sich René Bousquet, der Generalsekretär der französischen Polizei, verpflichten, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten sowie „jederzeit und effizient für Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Mit dem Schriftstück zwang man die Franzosen, die deutsche Polizeimacht im Kampf gegen die „Angriffe der Kommunisten, Terroristen, Agenten des Feindes, gegen Saboteure und deren Helfershelfer – Juden, Bolschewisten und Angloamerikaner“ – zu unterstützen. Um die französische Polizei noch stärker zu demütigen, waren die Beamten gezwungen, deutschen Amtspersonen bei jedem Treffen, also auch auf der Straße, zu salutieren. Die Anweisung war als die berüchtigte „Grußpflicht“ bekannt.
Dieser Unterordnung musste unbedingt Folge geleistet werden, denn nach Ansicht der Franzosen war sie immer noch jener Alternative vorzuziehen: eine Polizei, aufgestellt einzig und allein von der Besatzungsmacht, im Verbund agierend mit den zahlreichen Militärorganisationen, die mit den Nazis kollaborierten. Solche Konstellationen hätten unweigerlich zu beängstigender Polizeibrutalität geführt und darüber hinaus weniger Möglichkeiten zur Sabotage geboten. Allerdings verabscheuten viele Mitglieder der Résistance das Verhalten der Polizei dennoch als Zeichen einer feigen und opportunistischen Kollaboration zwischen dem Feind und den – ihrer Ansicht nach – Verrätern.
Trotz der Vermutung, dass die menschlichen Überreste in der Rue Le Sueur mit der Gestapo in Verbindung stehen könnten, quälten Massu Zweifel. Erstens: Niemand hatte ihn gewarnt, sich vom Tatort fernzuhalten. Das wäre zwangsläufig vor oder kurz nach der Entdeckung der Leichen geschehen, hätte es eine Verbindung zur Gestapo gegeben. Zweites: Er war beim Tatort keinem Gestapo-Mann begegnet, was mit Sicherheit geschehen wäre, wenn die Gestapo das Gebäude in irgendeiner Art und Weise genutzt hätte. Stunden, nachdem ihn sein Sekretär verständigt hatte, wartete Massu immer noch darauf, dass sich die Deutschen einschalten würden.
Kommissar Massu erreichte sein Büro am Quai des Orfèvres 36 auf der Île de la Cité um ungefähr 9 Uhr am Morgen des 12. März 1944. Von dem Fenster im dritten Stock der Kriminalpolizeibehörde konnte er auf die Rosskastanienbäume des Place Dauphine blicken, auf das Restaurant Le Vert-Galant und die Pont Neuf, die älteste Brücke von Paris, die trotz der zunehmenden Bombardements der Alliierten immer noch stand.
Einige Inspektoren verfassten Berichte, während andere sich um die in den Fluren wartenden Häftlinge kümmerten. Wie sich herausstellte, war niemand von ihnen beim Tatort gewesen. Massu nahm sich die erst wenige Stunden zuvor angelegte Akte Petiot vor und bereitete sich auf eine erneute Besichtigung des Hauses vor. Begleiten sollten ihn einige hochrangige Beamte der Stadt und der Polizei, darunter sein direkter Vorgesetzter, Polizeipräfekt Amédée Bussière, der den Tatort unbedingt sehen wollte, da er sowohl den französischen als auch den obersten deutschen Behörden Bericht erstatten musste. Um 10 Uhr gab das von den Deutschen kontrollierte Radio Paris den grauenhaften Leichenfund im sogenannten „Beinhaus“ an der Rue Le Sueur bekannt. „Petiot ist aus Paris geflohen“, verlas der Moderator und verschwendete dabei keine Zeit darauf, Spekulationen über den Aufenthaltsort des Verdächtigen anzustellen. „Es ist so gut wie sicher, dass er zu den Terrorbanden von Haute Savoie zurückkehrte.“ So bezeichneten die Nazis die Kämpfer der Résistance, die sich in den alpinen, an die Schweiz angrenzenden Regionen versteckten. „Dort wird er seine Aufgabe als medizinischer Leiter wieder aufnehmen.“ Im Rahmen dieser ersten Berichterstattung, aber auch am darauf folgenden Tag, zeichneten die Sender ein Porträt des Mörders als eines abtrünnigen Terroristen, der sich gegen das Dritte Reich auflehnte.
Allerdings hatte Radio Paris keinen guten Ruf und konnte nicht als sichere Quelle für hieb- und stichfeste Informationen gelten.
„Radio Paris lügt, Radio Paris lügt, Radio Paris ist deutsch“, lautete ein bekannter Refrain, gesungen zur Melodie von „La Cucaracha“. War Petiot tatsächlich ein Mitglied der Résistance? Innerhalb der Polizei kursierten schon Gerüchte über eine mögliche Verbindung des Verdächtigen zu geheimen patriotischen Organisationen. Massu erfuhr zudem, dass ein angeblicher Anführer eines Netzwerks der Résistance zum Tatort gekommen war, mit den Beamten gesprochen und nach einem