Blutige Straßen. Kerrie Droban
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„Ich bin kein Pessimist. Das ist einfach nicht mein Ding.“
– Jay Dobyns, ehemaliger Undercover-Agent,
der die Hells Angels infiltrierte
Jay Dobyns, ehemaliger ATF-Spezialagent für schwierige Undercover-Einsätze, führt nun ein Leben in der Öffentlichkeit. Seine Verdienste stehen auf einer Stufe mit dem Vermächtnis angesehener Streiter für Recht und Gerechtigkeit wie zum Beispiel den pensionierten FBI-Spezialagenten Joseph D. Pistone und Lock T. Lau oder dem DEA-Spezialagenten Mike Levin. Sein großes Opfer – und hier lassen sich Vergleiche zu anderen ehemaligen Agenten ziehen – wurde mit der Androhung von Rache und Terror „belohnt“, ausgesprochen von der kriminellen Organisation, die er einst unterwanderte. Aber auch das ATF, die Behörde, für die er einst tätig war, ließ ihn im Stich. Dobyns musste sich angesichts dieser Situation seinem schlimmsten Albtraum stellen und entschied sich für die Option, in die Öffentlichkeit zu gehen, zu einer öffentlichen Person zu werden, damit aber letztlich auch zu einem Ziel für die Hells Angels und mehrere Gefängnis-Gangs, darunter die Aryan Brotherhood. Er ist ein Symbol für wahres Heldentum.
Zwei Jahre lang hat Dobyns die Rolle eines Mitglieds der Solo Angeles gespielt, eines abtrünnigen mexikanischen Biker-Clubs, und gewann dabei das Vertrauen und den Respekt der gefährlichen und gewalttätigen Arizona Hells Angels. Während seiner Zeit als Undercover-Agent vereitelte Dobyns zahlreiche Mordversuche sowie geplante Exekutionen, die von skrupellosen Hells Angels ausgingen, die vermuteten, dass er ein Spitzel sei. Er bestand erfolgreich verschiedene Prüfungen der Hells Angels: So sollte er töten, Drogen konsumieren und Frauen als eine zusätzliche „Annehmlichkeit“ der Mitgliedschaft im Club akzeptieren.
Dobyns’ Rolle bei der Operation Black Biscuit, einer bahnbrechenden Kriminalermittlung, führte 2003 zu aufsehenerregenden Razzien, bei denen ATF-Agenten 50 Personen festnahmen und 650 Waffen beschlagnahmten, 30.000 Schuss Munition und mehr als 100 Sprengkörper, darunter auch Granaten und Napalm. Dank Dobyns’ Leistungen wurden erstmalig die gefährlichen Machenschaften der Bruderschaft der Hells Angels enthüllt sowie ihre Geschichte als kriminelle Organisation in den USA.
Durch Auftritte in nationalen Fernsehprogrammen wie CNNs Anderson Cooper 3600, Inside: Outlaw Bikers – Hells Angels (National Geographic Channel) und Gangland: Behind Enemy Lines (History Channel) weniger als drei Monate nach Veröffentlichung dieses Buches, verlieh Dobyns seiner Geheimmission Stimme und Gesicht und wurde zu einem Motor der Veränderung. Wie für ihn charakteristisch, verkroch er sich nicht in einer Ecke, um auf einen möglichen Angriff des Feindes zu warten. Als Person des öffentlichen Lebens ergab sich für ihn zwangläufig doch ein gewisser Schutz, denn für die Hells Angels war es eher untypisch, einen amerikanischen Helden ins Visier zu nehmen und damit öffentliche Vergeltung für all ihre Taten zu riskieren.
Die meisten Undercover-Agenten beenden ihre Karriere still und unauffällig. Sie werden von den jeweiligen Bundesbehörden vorgewarnt, weder Anerkennung noch speziellen Schutz zu erwarten. Das Risiko bestimmte das von ihnen gewählte Leben. Opfer zählten zu den Bedingungen, die sie bei einem Auftrag in Kauf nahmen. Auch Dobyns, der die Calabrese-Familie erfolgreich infiltrierte, war an Brutalität und Opfer gewöhnt. Von Natur aus ein zäher Kämpfer, füllte er die Undercover-Rollen mit einer Leidenschaft aus, die an Besessenheit grenzte, ein Eifer, den er schon früh in seiner Karriere an den Tag legte. Weder Morddrohungen noch multiple Schussverletzungen oder ein zerrüttetes Familienleben warfen ihn aus der Bahn. Sein Leben war auf den Tag hin ausgerichtet, an dem der letzte Vorhang fiel.
Das Schicksal von Dobyns’ ist unglücklicherweise kein Einzelfall. Es besteht ein Missverhältnis zwischen der Arbeit der Männer im Einsatz bzw. der Notwendigkeit, riskante Entscheidungen zu fällen, und der Erwartungshaltung der Vorgesetzten hinsichtlich der Ergebnisse. Da die Männer Monate, manchmal sogar Jahre in eine kriminelle Unterwelt eintauchen, haben sie Schwierigkeiten, sich wieder in das Durchschnittsleben eines US-Amerikaners einzufügen. Ähnlich wie Gefängnisinsassen oder Militärpersonal werden sie in eine in sich geschlossene Welt „verfrachtet“. Und plötzlich finden sie sich dann wieder in ein „normales“ Leben zurückversetzt, werden mit ihren Erfahrungen alleingelassen und ihrem einstigen Doppelleben, mit dem sie sich arrangierten.
Durch diese Ausnahmesituation leiden einige der Männer an posttraumatischen Belastungsstörungen, während sie verzweifelt versuchen, sich wieder in die „Normalität“ zu integrieren. Andere kehren zu der einzigen ihnen bekannten Rolle zurück und nehmen erneut Undercover-Aufträge an. Doch es gibt auch Beamte, die sich in der Hoffnung, Hilfe und Trost zu finden, der Öffentlichkeit zuwenden, jedoch häufig zurückgestoßen werden. Man kategorisiert sie als „Problemfälle“ oder Sündenböcke für eigentliche Führungsfehler, abgesehen von dem Fall, dass die Ermittlung einen weitreichenden Erfolg erzielte.
Konsequenterweise führen Undercover-Agenten oft ein isoliertes und einsames Leben und ziehen es vor, soziale Kontakte untereinander zu pflegen, statt mit Familienmitgliedern oder nahen Freunden. Einige der Männer führen ein von Wut bestimmtes Leben, andere müssen die Demütigung ertragen, dass man sie in den hinteren Bereich eines Restaurants setzt und schräg ansieht, da sie optisch Kriminellen ähneln. Viele Agenten müssen sich mit einem ungewöhnlichen Problem herumschlagen – dem Verrat, denn sie haben brutale Männer, mit denen sie einst Freundschaft schlossen, auch wenn es nur eine vordergründige war, ans Messer geliefert.
Den Erfahrungen der Agenten eine Stimme zu verleihen ist eine kathartische Geste und gleichzeitig Anerkennung ihrer Opfer. Stunden um Stunden der Langeweile, zerrissen durch Augenblicke höchster Not, und ein Leben voller Unsicherheit prägen das Dasein der Undercover-Agenten.
Kerrie Droban
April 2008