Aristoteles: Nikomachische Ethik. Aristoteles
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Ferner entsteht jede Tugend aus denselben Ursachen, durch die sie zerstört wird, gerade wie es bei den Künsten der Fall ist. Durch Citherspielen wird man z. B. ein guter und auch ein schlechter Citherspieler, und entsprechendes gilt vom Baumeister und jedem anderen Handwerker oder Künstler. Wer nämlich gut baut, wird dadurch ein guter Baumeister, und wer schlecht baut, ein schlechter. Wäre dem nicht so, so bedürfte es keines Lehrers, sondern jeder käme als Meister oder als Stümper auf die Welt. Grade so ist es nun auch mit den Tugenden. Durch das Verhalten im kommerziellen Verkehr werden wir gerecht oder ungerecht; durch das Verhalten in Gefahren und die Gewöhnung, vor ihnen zu bangen oder ihnen zu trotzen, werden wir mannhaft oder feige. Und ganz ebenso ist es mit den Anlässen zur Begierde oder zum Zorne: die einen werden mäßig und sanftmütig, die anderen zügellos und jähzornig, je nachdem sie in solchen Fällen sich so verhalten oder so, mit einem Worte: aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus. Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus. Und darum ist nicht wenig daran gelegen, ob man gleich von Jugend auf sich so oder so gewöhnt; vielmehr kommt hierauf sehr viel oder besser gesagt alles an.
Zweites Kapitel.
Da die gegenwärtige Untersuchung keine bloße Erkenntnis verfolgt, wie es sonst bei den Untersuchungen der Fall ist (denn wir betrachten die Tugend nicht, um zu wissen, was sie ist, sondern um tugendhaft zu werden; sonst wäre unsere Arbeit zu nichts nütze), so müssen wir unser Augenmerk auf die Handlungen und auf die Art ihrer Ausführung richten. Denn die Handlungen sind es, wie wir gesagt haben, durch welche die Beschaffenheit des Habitus bestimmt wird.
Daß man nun nach der rechten Vernunft handeln muß, ist eine allgemeine Regel, die wir hier zu Grunde legen, um hernach37 zu bestimmen, was die rechte Vernunft ist, und wie sie sich zu den anderen Tugenden verhält. Das (1104a) aber möge im voraus als zugestanden gelten, daß jede Theorie der Sittlichkeit nur allgemeine Umrisse liefern und nichts mit unbedingter Bestimmtheit vortragen darf. Darum haben wir ja auch gleich eingangs bemerkt, daß die Anforderungen an eine Erörterung sich je nach dem Stoffe richten müssen. Was aber dem Bereiche des sittlichen Handelns und des im Leben Nützlichen angehört, hat nichts an sich, was ein für alle mal feststände, so wenig als das Gesunde. Und wenn das schon für die allgemeinen Regeln gilt, so läßt das Einzelne und Konkrete noch weniger genaue und absolut gültige Vorschriften zu, da es unter keine Kunst und keine Lehrüberlieferung fällt. Hier muß vielmehr der Handelnde selbst wissen, was dem gegebenen Fall entspricht, wie dies auch in der Heilkunst und in der Steuermannskunst geschieht. Aber trotz dieses Charakters unserer Disziplin müssen wir sehen, wie zu helfen ist.
Zuerst kommt in Betracht, daß Dinge dieser Art ihrer Natur nach durch Mangel und Übermaß zu Grunde gehen. Man kann das, wenn man für Unbekanntes Bekanntes als Beweis benutzen soll, an der Stärke und der Gesundheit sehen. Übertriebene Körperübungen ebenso wie unzureichende führen den Verlust der Leibeskraft herbei. Desgleichen verdirbt ein Übermaß oder ein unzureichendes Maß von Speise und Trank die Gesundheit, während das rechte Maß sie hervorbringt, stärkt und erhält. Ebenso ist es nun auch mit der Mäßigkeit, dem Starkmut und den anderen Tugenden. Wer alles flieht und fürchtet und nichts erträgt, wird feig, dagegen wer gar nichts fürchtet und gegen alles angeht, tollkühn. Desgleichen wird wer jede Lust genießt und sich keiner enthält, zügellos, wer aber jede Lust flieht, wie die sauertöpfischen Leute, verfällt in eine Art Stumpfsinn. Denn Mäßigkeit und Starkmut wird durch das Zuviel und Zuwenig aufgehoben, durch die rechte Mitte aber erhalten.
Aber nicht blos die Entstehung, das Wachstum und der Untergang kommt aus denselben und durch dieselben Ursachen; auch die Tätigkeiten werden mit diesen Ursachen auf einem Felde liegen. So ist es ja auch bei den Dingen, die uns bekannter sind, wie bei der Stärke: sie entsteht dadurch, daß man viele Nahrung zu sich nimmt und viele Anstrengungen erträgt, und der Starke vermag wieder am besten dergleichen zu tun. Ebenso verhält es sich mit den Tugenden: durch die Enthaltung von sinnlichen Genüssen werden wir mäßig, und sind wir es geworden, so können wir uns ihrer am besten enthalten. Desgleichen mit dem (1104a) Mute: indem wir uns gewöhnen, Gefahren zu verachten und zu bestehen, werden wir mutig, und sind wir es geworden, werden wir am leichtesten Gefahren bestehen können.
Als ein Zeichen des Habitus muß man die mit den Handlungen verbundene Lust oder Unlust betrachten. Wer sich sinnlicher Genüsse enthält und eben hieran Freude hat, ist mäßig, wer aber hierüber Unlust empfindet, ist zuchtlos. Und wer Gefahren besteht und sich dessen freut oder wenigstens keine Unlust darüber empfindet, ist mutig, wer aber darüber Unlust empfindet, ist feig. Denn die sittliche Tugend hat es mit der Lust und der Unlust zu tun38. Der Lust wegen tun wir ja das sittlich Schlechte, und der Unlust wegen unterlassen wir das Gute. Darum muß man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung39.
Die Tugenden bewegen sich ferner um das Tun und Leiden. Da aber mit allem, was man tut und leidet, Lust und Unlust verbunden ist, so wird die Tugend sich um Lust und Unlust bewegen.
Dies zeigen auch die Strafen an, die darin bestehen, daß Genußbringendes entzogen und Schmerzliches angetan wird. Sie sind gleichsam ein Heilverfahren; die Heilung eines Übels aber pflegt von seinem Gegenteil auszugehen.
Ferner bewegt sich, wie wir vorhin sagten, jeder Habitus bei seiner Betätigung von Natur aus in dem und um das, wodurch er geeignet ist, verschlechtert oder verbessert zu werden. Nun wird er aber verschlechtert durch Lust und Unlust, wenn er bei beiden sucht und flieht, was er nicht soll, oder wann er nicht soll, oder wie er nicht soll, oder wie sonst noch derartiges im Begriffe unterschieden wird. Daher bestimmt man wohl auch die Tugend als eine gewisse Unempfindlichkeit und Ruhe, jedoch mit Unrecht, weil man Unempfindlichkeit schlechthin fordert, statt zu sagen, wie man unempfindlich sein muß und wie nicht, und wann, und was sonst noch hieher gehört. Als Voraussetzung gelte also, daß eine derartige Tugend40 überall da, wo es sich um Lust und Unlust handelt, das Beste vollbringt, wie die Schlechtigkeit das Gegenteil.
Eben dies kann uns auch noch durch folgendes klar werden. Da drei Dinge Gegenstand des freien Strebens und drei Gegenstand des Fliehens sind: das sittlich Gute, das Nützliche und das Angenehme oder Lusterregende, und deren Gegenteil: das Böse, das Schädliche und das Unangenehme oder Unlusterregende, so gilt zwar für alles dieses, daß der Tugendhafte darin das Rechte trifft und der Schlechte es verfehlt, am meisten aber gilt es für die Lust. Denn sie ist allen Sinnenwesen gemeinsam und mit (1105a) allem, was unter die menschliche Wahl fällt, verbunden, Auch das sittlich Gute und das Nützliche erscheint ja als lustbringend.
Ferner ist die Lust mit uns allen von Kindesbeinen an verwachsen, daher es schwer hält, dieses durch das Leben in uns festgewurzelte Gefühl abzustreifen.
Auch machen wir, die einen mehr die anderen weniger, Lust und Unlust zur Richtschnur unserer Handlungen. Diese beiden Gefühle sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie. Denn es ist für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust und Unlust empfindet.
Endlich ist es, wie Heraklit41 sagt, noch schwerer, die Lust zu bekämpfen als den Zorn. Um das Schwerere aber bemüht sich allezeit wie die Kunst so die Tugend, und durch dieses wird das Gute zum