Aristoteles: Nikomachische Ethik. Aristoteles
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Ferner kann man auf vielfache Weise fehlen – das Schlechte gehört ja zum Unbegrenzten, wie die Pythagoreer bildlich sagten, das Gute aber zum Begrenzten –, dagegen kann man es nur auf eine Weise recht machen; weshalb auch jenes leicht ist und dieses schwer45. Denn es ist leicht das Ziel zu verfehlen, aber schwer es zu treffen. Auch aus diesem Grunde gehört demnach das Übermaß und der Mangel dem Laster an, die Mitte aber der Tugend. Denn »Nur eine Weise kennt die Tugend, doch viele das Laster«46.
Sechstes Kapitel.
Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der (1107a) die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt. Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, daß das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird.
Deshalb ist die Tugend nach ihrer Substanz und ihrem Wesensbegriff Mitte; insofern sie aber das Beste ist und alles gut ausführt, ist sie Äußerstes und Ende.
Doch faßt nicht jede Handlung oder jeder Affekt eine Mitte, da sowohl manche Affekte, wie Schadenfreude, Schamlosigkeit und Neid, als auch manche Handlungen, wie Ehebruch, Diebstahl und Mord, schon ihrem Namen nach die Schlechtigkeit in sich schließen. Denn alles dieses und ähnliches wird darum getadelt, weil es selbst schlecht ist, nicht sein Zuviel und Zuwenig. Demnach gibt es hier nie ein richtiges Verhalten, sondern immer lediglich ein verkehrtes, und das Gute und Schlechte liegt bei solchen Dingen nicht in den Umständen, wie wenn es sich z. B. beim Ehebruch darum fragte, mit wem und wann und wie er erlaubt sei, sondern es ist überhaupt gefehlt, irgend etwas derartiges zu tun. Ebensowenig nun darf man bei der Ungerechtigkeit, Feigheit und Zuchtlosigkeit nach einer Mitte oder nach einem Zuviel oder Zuwenig fragen. Denn so bekämen wir eine Mitte des Zuviel und Zuwenig und ein Zuviel des Zuviel und ein Zuwenig des Zuwenig. Wie es vielmehr bei der Mäßigkeit und dem Starkmut kein Zuviel und Zuwenig gibt, weil die Mitte gewissermaßen Ende und Äußerstes ist, so gibt es auch in jenen Dingen keine Mitte und kein Zuviel und Zuwenig, sondern wie man sie auch tun mag, immer ist es gefehlt. Denn es gibt beim Zuviel und Zuwenig überhaupt keine Mitte, wie bei der Mitte kein Zuviel und Zuwenig.
Siebentes Kapitel.
Dies ist aber nicht nur so allgemein aufzustellen, sondern auch ins Einzelne zu verfolgen. In den Erörterungen, die das Handeln betreffen, sind die allgemeinen Sätze am leersten, während die partikulären einen größeren Inhalt an Wahrheit haben. Denn die Handlungen bewegen sich um das Einzelne, und mit ihm müssen die Behauptungen übereinstimmen. Dieses Einzelne wollen wir aus der Einteilung entnehmen.
Bei den Affekten der Furcht und der Zuversicht ist der (1107b) Mut die Mitte. Wer hier durch Übermaß fehlt, hat, wenn es durch Furchtlosigkeit geschieht, keinen besonderen Namen – wie denn so manches keine eigene Benennung hat –, geschieht es aber durch ein Übermaß von Zuversicht, so heißt er tollkühn; wer aber durch ein Übermaß von Furcht und einen Mangel an Zuversicht fehlt, heißt feig.
Bei den Affekten der Lust und der Unlust, nicht bei allen jedoch und am wenigsten bei allen Unlustempfindungen, ist die Mitte Mäßigkeit, das Übermaß Zuchtlosigkeit oder Unmäßigkeit. Menschen, die auf dem Gebiete der Lustempfindungen zu wenig tun, gibt es wohl kaum. Darum haben auch sie keinen eigenen Namen erhalten. Wir wollen sie indessen unempfindlich nennen47.
In Geldsachen, im Geben wie im Nehmen, ist die Mitte Freigebigkeit, das Übermaß und der Mangel Verschwendung und Geiz, und zwar so, daß beide Fehler beide Extreme aufweisen, jedoch umgekehrt zu einander. Der Verschwender gibt zu viel und nimmt zu wenig; der Geizige dagegen nimmt zu viel und gibt zu wenig. Diese allgemeinen und summarischen Daten mögen einstweilen genügen. Später48 wollen wir hierüber Genaueres feststellen.
Es gibt auch in Geldsachen noch andere Charaktereigenschaften : die Hochherzigkeit als Mitte (denn der Hochherzige unterscheidet sich von dem Freigebigen: bei ihm handelt es sich um großes, bei dem anderen um kleines), ferner die Sucht, geschmacklosen und großtuerischen Aufwand zu machen, als Übermaß, endlich die Engherzigkeit als Mangel. Diese Extreme decken sich nicht mit denen der Freigebigkeit. Inwiefern sie es nicht tun, soll später gesagt werden.
In Bezug auf Ehre und Schande ist die Mitte Hochsinn, das Übermaß heißt Aufgeblasenheit, der Mangel ist niederer Sinn. Wie aber nach dem vorhin Gesagten die Freigebigkeit, deren unterscheidendes Merkmal darin liegt, sich im Kleinen zu betätigen, sich zu der Hochherzigkeit verhält, so verhält sich zum Hochsinn, der auf große Ehre gerichtet ist, eine gewisse Eigenschaft, die auf die Ehre im Kleinen ausgeht. Man kann nämlich auf die rechte Weise nach der Ehre verlangen und mehr, als recht ist, und weniger. Wer in diesem Verlangen zu weit geht, heißt ehrgeizig; wer nicht weit genug geht, heißt ein Mensch ohne Ehrgeiz; wer aber die Mitte einhält, für den fehlt die bezeichnende Benennung. Ebenso sind die Eigenschaften selbst ohne Namen; nur diejenige des Ehrgeizigen heißt Ehrgeiz. Und darum erheben hier die beiden Extreme Anspruch auf die Mitte, und auch wir nennen denjenigen, der hier die rechte Mitte einhält, bald ehrgeizig, bald frei von Ehrgeiz und haben bald für den Ehrgeizigen, bald für den Nichtehrgeizigen (1108a) ein Lob. Warum wir dieses tun, soll später dargelegt werden. Jetzt wollen wir noch das Übrige in der begonnenen Weise besprechen.
Auch bei dem Zorne gibt es ein Übermaß, einen Mangel und eine Mitte. Da aber die Sprache fast keinen Namen dafür hat, so wollen wir den Menschen, der die Mitte einhält, sanftmütig und so dann die Mitte Sanftmut nennen. Von den Extremen soll der, der das Zuviel hat, zornmütig und sein Fehler Zornmütigkeit heißen, wer das Zuwenig hat, etwa zornlos und das Zuwenig Zornlosigkeit.
Es gibt auch noch drei andere Mitten, die zwar in einer Hinsicht mit einander übereinstimmen, aber im übrigen verschieden sind. Sie beziehen sich alle drei auf den geselligen Verkehr in Worten und Handlungen, unterscheiden sich aber dadurch, daß die eine sich auf die Wahrheit in denselben bezieht, die beiden anderen auf das Angenehme, einmal das Angenehme des Scherzes und dann das Angenehme im sonstigen Verkehr. Auch hierüber müssen wir sprechen, damit wir desto deutlicher erkennen, daß die Mitte in allem das Lobenswerte ist, die Extreme aber weder recht noch lobenswert sind, sondern tadelnswert. Für die meisten Eigenschaften fehlen hier wieder die Bezeichnungen. Wir wollen jedoch versuchen, ihnen wie den übrigen Namen zu geben um der