Gesammelte Werke. Aristoteles
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Das Recht ist also dieses Proportionale, das Unrecht aber ist was wider die Proportionalität anläuft. Es ist also teils ein Mehr, teils ein Weniger, wie es auch tatsächlich zutrifft. Denn wer Unrecht tut, eignet sich vom Guten zuviel an, und wer Unrecht leidet, bekommt davon zuwenig. Beim Übel aber ist es umgekehrt. Denn das kleinere Übel kann im Vergleich zum größeren Übel als ein Gut gelten, da das kleinere Übel vor dem größeren der Vorzug hat, und was den Vorzug hat, ein Gut ist, und zwar ein um so größeres, je mehr es den Vorzug hat.
Das ist also die eine Art des Rechtes. Die noch übrige ist die ausgleichende, die im Verkehr, dem freiwilligen wie dem unfreiwilligen, Anwendung findet125. Dieses Recht hat eine andere Form als das erstere. Die das Gemeinsame austeilende Gerechtigkeit verfährt immer nach der angegebenen Proportionalität; wenn z. B. eine Geldverteilung aus öffentlichen Mitteln stattfindet, so muß sie nach dem Verhältnisse geschehen, das die Leistungen der Bürger zu einander haben; und das diesem Rechte entgegengesetzte Unrecht ist was diesem Verhältnisse zuwiderläuft. Dagegen ist das Recht im Verkehr zwar auch ein Gleiches und das Unrecht im Verkehr ein Ungleiches, aber nicht nach Maßgabe (1132a) der genannten, sondern gemäß der arithmetischen Proportionalität. Es trägt ja nichts aus, ob ein guter Mann einen schlechten verkürzt oder ein schlechter einen guten, oder ob ein guter oder ein schlechter Mann einen Ehebruch begeht; vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied des Schadens, und es behandelt die Personen als gleiche, wenn die eine Unrecht getan, die andere es erlitten, die eine Schaden zugefügt hat, die andere geschädigt worden ist. Daher versucht der Richter dieses Unrecht, als welches in der Ungleichheit besteht, auszugleichen. Denn wenn der eine geschlagen worden ist, der andere geschlagen hat, oder auch der eine getödtet hat, der andere getödtet worden ist, so ist dieses Leiden und jenes Tun in ungleiche Teile geteilt; aber der Richter sucht durch die Strafe einen Ausgleich herbeizuführen, indem er dem Täter seinen Vorteil entzieht.
In diesen Dingen redet man nämlich ganz allgemein von Vorteil, wenn auch der Ausdruck für einzelne Verhältnisse nicht eigentlich paßt, wie wenn z. B. der Schläger Vorteil und der Geschlagene Nachteil haben soll; aber bei Abmessung erlittenen Unrechtes ist es nun einmal so, daß man dasselbe Nachteil, das zugefügte Unrecht aber Vorteil nennt.
So ist denn das Gleiche die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, der Vorteil und Nachteil aber sind in entgegengesetzter Weise ein Zuviel und ein Zuwenig, indem der Vorteil ein Zuviel des Guten und ein Zuwenig des Übels, der Nachteil aber das Umgekehrte ist. Zwischen ihnen war die Mitte das Gleiche, das wir als das Recht bezeichnen. Und so wäre denn das ausgleichende oder wiederherstellende Recht126 die Mitte zwischen Nachteil und Vorteil.
Deshalb nimmt man auch in zweifelhaften Fällen seine Zuflucht zum Richter. Zum Richter gehen heißt aber soviel, als zur Gerechtigkeit gehen, da der Richter gleichsam die lebendige Gerechtigkeit sein soll. Auch sucht man in dem Richter einen Mann der Mitte, und Manche nennen sie Mittelsmänner127, als träfen sie, wenn sie die Mitte treffen, das Recht. So ist denn das Recht ein Mittleres, wie es ja auch der Richter ist. Der Richter stellt die Gleichheit her und macht es, wie wenn er eine in ungleiche Teile geteilte Linie vor sich hätte, von deren größerem Teile er das Stück, um welches derselbe größer ist als die Hälfte, wegnähme und zu dem kleineren Teile hinzutäte. Wenn aber das Ganze in zwei Teile geteilt ist, so sagt man; »jeder hat sein Teil«, wenn sie gleiches bekommen haben. Das Gleiche aber ist die Mitte zwischen dem zu Großen und dem zu Kleinen nach der arithmetischen Proportion. Darum heißt es auch »dikaion« (gerecht), weil es »dicha« (zweiteilig) ist, wie wenn man sagte »dichaion« und statt »dikastes« (Richter) »dichastes« (Zweiteiler). Denn wenn man von zwei gleichen Großen die eine um ein Stück vermindert und die andere um dasselbe Stück vermehrt, so übertrifft diese jene um diese beiden Stücke. Würde die eine nur vermindert, ohne daß die andere vermehrt (1132b) würde, so würde diese jene nur um das einfache Stück übertreffen. So aber übertrifft sie die Mitte um das einfache Stück, und die Mitte wieder die verminderte Größe um dasselbe. Hieraus also mögen wir erkennen, was man dem, der zu viel hat, wegnehmen und dem, der zu wenig hat, hinzugeben muß. Dem, der zu wenig hat, muß man so viel hinzugeben, als die Mitte sein Teil übertrifft, und dem, der das Meiste hat, so viel wegnehmen, als die Mitte von seinem Teil übertroffen wird.
Die Linien aa, bb, cc seien einander gleich. Von aa werde ae genommen und zu cc als cd hinzugesetzt, so daß die ganze Linie dcc die Linie ea um das Stück cd und ef übertrifft, und mithin die Linie bb um das Stück cd.
Das Gesagte muß auch noch in anderer Hinsicht, bei den Leistungen der verschiedenen Künste, vor Augen gehalten werden. Es wäre um sie geschehen, wenn der Künstler nicht tätig ein Produkt schüfe, das sich quantitativ und qualitativ bewerten ließe, und nicht leidend dafür sowohl quantitativ als qualitativ entsprechend ausgelohnt würde128.
Die Ausdrücke Verlust (Einbuße, Nachteil) einerseits und Gewinn (Zubuße, Vorteil) anderseits stammen aus dem freiwilligen Verkehr. Gewinnen bedeutet nämlich eigentlich mehr erhalten, als man hatte, und Verlieren bedeutet weniger erhalten, als man vorher besaß, wie bei Kauf und Verkauf und jedem solchen gesetzlich erlaubten Verkehr. Und wenn nicht mehr und nicht weniger vereinnahmt wird, sondern gleiches um gleiches, dann sagt man, man erhalte das Seinige und erleide weder Verlust noch mache man Gewinn.
So ist denn dieses Recht eine Mitte zwischen einem nicht auf freiem Willen beruhenden Gewinn und Verlust, also dies, daß man vor wie nach das Gleiche hat129.
Achtes Kapitel.
Einige Philosophen vertreten aber auch die Ansicht, die Wiedervergeltung sei das Recht schlechthin. So die Pythagoreer, die schlechthin das Recht als das bestimmten, was man von einem anderen wiedererleide. Allein die Wiedervergeltung stimmt mit der ausgleichenden Gerechtigkeit so wenig wie mit der austeilenden überein, obschon man in diesem Sinne das Recht des Rhadamanthys deuten möchte: »Leidest du was du getan, so ist richtiges Recht dir geworden.« Denn sie steht vielfach mit ihr in Widerspruch. Wenn z. B. eine obrigkeitliche Person jemanden geschlagen hat, so darf sie nicht wiedergeschlagen werden, und wenn jemand eine solche Person geschlagen hat, so muß er nicht blos geschlagen, sondern auch außerdem noch bestraft werden. Sodann trägt auch das Freiwillige und das Unfreiwillige der Handlung viel aus.
In jedem auf Gegenseitigkeit beruhenden Verkehr freilich begreift die Wiedervergeltung das fragliche Recht in sich, jedoch eine Wiedervergeltung nach Maßgabe der Proportionalität, nicht nach Maßgabe der Gleichheit. Denn dadurch, daß nach Verhältnis vergolten wird, bleibt der Bürgerschaft ihr Zusammenhalt gewahrt. Entweder nämlich sucht man das Böse zu vergelten, und ohne diese Vergeltung hätte (1133a) man den Zustand der Knechtschaft, oder das Gute, und ohne das wäre keine Gegenleistung, auf der doch die Gemeinschaft beruht. Darum errichtet man auch das Heiligtum der Chariten auf öffentlichen Plätzen, damit man der Gegenleistung gedenke, die der Dankbarkeit eigen ist. Denn man muß dem, der uns gefällig gewesen ist, Gegendienste erweisen und auch selbst wieder zuerst ihm gefällig sein.
Der Entgelt nach Verhältnis kommt zustande durch eine Verbindung der Daten nach Maßgabe der Diagonale; z. B. a sei Baumeister, b Schuster, c Haus und d Schuh. Der Baumeister muß nun vom Schuster dessen Arbeit bekommen und selbst ihm die seinige dafür zukommen