Der Große Nordische Krieg 1700–1721. Stephan Lehnstaedt
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Das sächsische Heer bestand aus klassischen Berufssoldaten, die größtenteils mit den althergebrachten Mitteln angeworben oder befreundeten Fürsten abgekauft wurden – üblicherweise ganze Regimenter, wobei der Preis je nach Mannschaftsstärke und Ausrüstung unterschiedlich ausfiel; diese Einheiten mussten dann für mehrere Jahre für Sachsen kämpfen. AugustAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen hatte außerdem einige Söldner in seinen Diensten, die insbesondere aus der Schweiz und aus Frankreich stammten. Ihnen gestand man ihre eigenen Gebräuche und Gerichtsbarkeit zu, sie waren also nicht vollständig in das Heer integriert. Ein kleinerer Teil der Armee, die im Jahr 1700 insgesamt 26 500 Mann zählte, war im Kurfürstentum rekrutiert worden, aber dazu benötigte AugustAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen die Zustimmung der Stände, die oft Widerstand leisteten: Ganz generell fiel es im prosperierenden Sachsen schwer, auf menschliche Arbeitskräfte zu verzichten. Doch wegen des ungünstig verlaufenden Krieges musste immer wieder auf diese unpopuläre Maßnahme zurückgegriffen werden, um die steigenden Verluste zumindest annähernd auszugleichen. Bis 1711 wurden so schätzungsweise 16 000 Mann neu in die Armee eingezogen. Der Anteil der Untertanen in der sächsischen Armee wuchs auf etwa 90 Prozent, damit blieb Sachsen kaum hinter Schweden zurück.
AugustAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen setzte bei der Auswahl seiner Soldaten genauso auf westeuropäische Standards wie bei deren Bewaffnung. Den Zeitgenossen galt sein Heer als das modernste im Großen Nordischen Krieg, dank seiner vollständigen Ausrüstung mit Schusswaffen, seinen fortschrittlichen technischen Truppen, seiner starken Artillerie und dazu den Offizieren, die viel Erfahrung aus anderen Ländern und Konflikten mitbrachten. Aber Sachsen hatte bislang hauptsächlich als Juniorpartner Truppenkontingente für die Großmächte gestellt. Ein Krieg auf eigene Rechnung gegen einen starken Gegner war eine neue Herausforderung, der sich das Kurfürstentum kaum gewachsen zeigte – zumal es nach dem Ausscheiden Dänemarks aus der Allianz einige Jahre lang im Grunde genommen den Schweden allein gegenüberstand.
[34]Erste Schwierigkeiten zeigten sich bereits unmittelbar beim Aufmarsch in Livland: Für den Transport der Geschütze gab es nicht genügend Pferde und Kutscher. Ganz ähnlich war es um die Logistik bestellt: Der Nachschub existierte zwar, konnte aber nicht zur Truppe geschickt werden. Jedes Mal, wenn wieder ein Feldzug anstand, mussten Helfer umständlich angeworben und Tiere erst beschafft werden, was nicht nur administrativen Aufwand bedeutete, sondern auch einige Verzögerungen mit sich brachte. Wenig planvoll war außerdem die Kommandostruktur der Artillerie, denn diese hatte man nicht in Batterien zusammengefasst oder Infanterieregimentern zugeordnet, sondern die einzelnen Geschütze den jeweiligen Stückführern überlassen.
Als wenig hilfreich erwies sich zudem die sächsische Kavallerie, die fast die Hälfte der Armee stellte. Sie gab sich elitär und trumpfte mit ihrer guten Ausbildung auf, konnte sich aber de facto gegen Schweden kaum durchsetzen. Das erwähnte Karakolieren, der Angriff ausschließlich mit Pistolen, beeindruckte die schwedische Reiterei nicht – sie drang mit dem Säbel auf die Sachsen ein und zwang sie zum Rückzug. 1709 gab AugustAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen daher diese Taktik auf und instruierte seine Männer, nur noch die Blankwaffe zu nutzen. Doch dass Karl XII.Karl XII., König von Schweden kein Interesse daran zeigte, einen ressourcenschonenden Kabinettskrieg zentraleuropäischer Fürsten zu führen, bedeutete nicht zwangsläufig, dass die sächsischen Kürassiere nutzlos waren. Ganz im Gegenteil erwies sich ihre Mobilität in den Weiten Polens als großer Vorteil in den Jahren bis zum Frieden von Altranstädt 1706, gerade weil sie einer Konfrontation mit Schweden ausweichen konnten. Das entsprach dann doch wieder dem strategischen Kalkül AugustsAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen, die Armee als Drohpotenzial statt in verlustreichen Entscheidungsschlachten einzusetzen.
Im Nachhinein ist es leicht, AugustsAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen Idee eines Feldzugs gegen Schweden als absurd abzutun. Gemeinsam mit seinen beiden Verbündeten hatte er aus damaliger Sicht aber gute Chancen auf einen Sieg, und das schonungslose Vorgehen KarlsKarl XII., König von Schweden war nicht zu erwarten gewesen. Der Kriegsverlauf zeigt jedoch, wie viel besser der König aus Stockholm die Schwächen und Stärken der unterschiedlichen Armeen einschätzte und auszunutzen verstand. Sachsen wusste zwar gut Bescheid über die Größe des schwedischen Heeres – tatsächlich überschätzte man diese in Dresden sogar – und hatte sich gerade vor diesem Hintergrund Bündnispartner gesucht. Doch zu seinen materiellen und organisatorischen [35]Defiziten traten personelle: AugustsAugust, Kurfürst von Sachsen, als August II. König von Polen Auswahl seiner Generale, denen er das Kommando überließ, war wenig überzeugend. Matthias Johann von der SchulenburgSchulenburg, Matthias Johann Graf von der etwa hatte, bevor er 1702 in sächsische Dienste trat, für Braunschweig und Savoyen am Rhein und gegen die aufständischen Waldenser gekämpft, konnte sich jedoch auf das aggressive schwedische Vorgehen nur schwer einstellen. Das sächsische Offizierskorps hatte schlicht den falschen Erfahrungshintergrund für eine Auseinandersetzung, die sich so sehr von den auch räumlich begrenzten Kriegen Westeuropas unterschied.
Matthias Johann von der SchulenburgSchulenburg, Matthias Johann Graf von der (1661–1747)
[36]Aus Polen hätten geeignete Experten kommen können. Das Land war militärtheoretisch auf der Höhe, man rezipierte die entsprechenden Publikationen aus dem Westen, außerdem ermöglichten ausländische Kommandeure einen praktischen Wissenstransfer. Allerdings gewährte der Adel, der um seine Privilegien fürchtete und die Kontrolle über die Armee nicht aus den Händen geben wollte, ihnen nur begrenzten Spielraum. Zudem dienten die wenigsten Adligen wirklich lange in der Armee, viel Wissen ging deshalb wieder verloren – es gab eher kompetente Reservisten als professionelle Berufsmilitärs, die einen Wandel hätten anleiten können.
Zar PeterPeter I., Zar und Großfürst von Russland hatte seine Armee durchgreifend modernisiert, etwa mit einer Integration der Artillerie in den Heeresverbund, die ihresgleichen suchte. Die Flotte hatte eher unterstützenden Charakter. Sturm russischer Truppen auf die Festung Nöteburg am 11. Oktober 1702. Gemälde, 1846
In Polen blieb der Wehrdienst auf den Adel, die Szlachta, beschränkt; im Kriegsfalle wurden diese Männer samt ihren Pferden einberufen. Sie [37]blieben unter sich und verteidigten ihr Ideal der Gleichheit untereinander. Dementsprechend legten sie Wert auf eine einvernehmliche Führung auch in Konflikten und diskutierten Entscheidungen in lokalen Zusammenschlüssen. Ihr Dienst war auf höchstens 12 Monate am Stück beschränkt, und selbstverständlich kehrten die Adligen, von denen viele nur über geringen Besitz verfügten, auf ihre Ländereien zurück, falls die Entlohnung ausblieb.
Doch bei allen Beschränkungen, die der Adel im Sejm seinem König auch ansonsten auferlegte, verhinderte er Reformen nicht grundsätzlich: Er erlaubte neben einer königlichen Infanterietruppe die Formierung weiterer Einheiten, die größere Gutsbesitzer – auch die Kirche – sowie die Städte stellen mussten. Deren Zahl blieb indes gering. Noch [38]in den 1690er Jahren stammten lediglich fünf Prozent der polnischen Infanterie tatsächlich aus Polen, die Mehrzahl waren angeworbene Söldner. Von den insgesamt etwa 26 000 Mann des Heeres, die im Kriegsfall bereitstanden, waren rund zwei Drittel schwere Kavallerie, die immerhin gut für die Weiten des Ostens geeignet war.
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