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Wenig später, als wir drinnen spielten und Mutter in der Küche war, trommelte ein Nachbarskind an die Tür und schrie: „Marlon ist tot!“ Er war von einem Auto erfasst worden.
Mutter rannte nach draußen und kreischte: „Wo?! Wo?!“
Ich stand auf dem Gartenweg und sah ihr nach, wie sie durch den Schnee die Straße entlanglief. Hinter mir stand Michael, der, von Schuldgefühlen überwältigt, wie angewurzelt an der Schwelle verharrte. „Oh Gott, was habe ich getan? Ich habe ihn zum Kaugummikaufen geschickt … Erms, das alles ist meine Schuld.“
Ein Auto war auf der schneeglatten Straße ins Schleudern gekommen und hatte Marlon verletzt. Er lag noch unter der Stoßstange des Wagens auf der Straße, als Mutter ihn fand; einige Leute aus der Straße hatten sich bereits um ihn gekümmert. Er hatte Kopfverletzungen davongetragen und kam ins Krankenhaus, wo er einige Tage blieb. Als Mutter nach Hause kam und sagte, dass er wieder gesund werden würde, brach Michael vor Erleichterung in Tränen aus. Er war restlos überzeugt gewesen, dass sein Bruder tot sei, nur seinetwegen und dass er deswegen später als Strafe nicht in Gottes Paradies kommen werde.
Diese Überlegung wurzelte darin, dass bei uns zu Hause die Lehren des Königreichsaals ebenso viel Gewicht hatten wie die Lehren der Unterhaltungsbranche. Die Ironie dieser Kombination wurde uns gar nicht bewusst. Als Kinder stellten wir nichts in Frage: Ich glaube, das haben wir nie gelernt. Michael glaubte es, wenn die Ältesten predigten, dass nur 144 000 Menschen von Jehova gerettet und nach dem Armageddon in ein neues Paradies gebracht würden. Wieso nur 144 000 von den vier Millionen praktizierenden Zeugen Jehovas, die es in den USA gab? Wir fragten nie. Der Einfluss Jehovas war eine Konstante des Lebens in der Jackson Street 2300, der vielleicht nie genug Gewicht beigemessen worden ist: Es war eine Doktrin, die Michael konditionierte und die uns ebenso dazu brachte, uns sklavisch an Regeln zu halten, wie Josephs unnachgiebige Strenge.
Gott war stets in unserem Haus zugegen, aber Jehova zog richtig ein, als Michael zwei Jahre alt war, kurz bevor Mutter mit Randy schwanger wurde. Sie war als Christin erzogen worden und kam aus einer Familie, die den Baptisten eng verbunden war, aber 1960 ereigneten sich zwei entscheidende Ereignisse: Erst wurde ruchbar, dass ein Pastor der Lutherischen Kirche von Gary, den Mutter sehr respektierte, eine Affäre hatte und damit sein Versprechen an Gott gebrochen hatte, und während Mutter noch mit dieser schweren spirituellen Enttäuschung kämpfte, klopfte dann eine praktizierende Zeugin Jehovas, eine Freundin namens Beverly Brown, an unsere Tür. Und das war der Augenblick, da Weihnachten und Geburtstage aus unserem Haus verschwanden. Mutter sagt zwar, dass ich mich doch daran erinnern „muss“, dass wir einen Weihnachtsbaum hatten und ich Geschenke bekam, bevor ich sechs wurde, aber mir fällt nichts dazu ein.
Nach ihrer Konversion war der einzige „besondere Tag“ der obligatorische Besuch des örtlichen Königreichsaals an Mutters Seite. Es oblag ihrer Verantwortung, uns die Liebe Gottes aufzuzeigen. Joseph begleitete uns selten, wenn wir uns unsere gebrauchten „guten“ Hosen, Jacken und Schlipse anzogen, um brav auf den Stühlen zu sitzen und zum Stillsein ermahnt zu werden, wenn wir herumrutschten, maulten oder mit den Füßen wippten. Nur die Hymnen ließen die ganze Sache ein kleines Bisschen lebendig erscheinen.
Mutter sorgte dafür, dass wir uns Zeit zum Bibelstudium nahmen. Das Alte und das Neue Testament und die wichtigsten Schriften der Glaubensgemeinschaft wie der Wachtturm oder Vom verlorenen Paradies zum wiedererlangten Paradies lagen stets auf dem Wohnzimmertisch parat. Mutter bekam Gesellschaft von anderen Zeugen Jehovas, um aus den Schriften vorzulesen, während Jackie, Tito, Marlon, Michael und ich uns auf dem Sofa zusammenquetschten, die Mädchen zu unseren Füßen, mit je einer Bibel auf dem Schoß und einem Bleistift in der Hand, um Passagen zu unterstreichen, die bei der nächsten Predigt zur Sprache kommen sollten. Rebbie konnte es nicht erwarten, Mutter bei der Missionsarbeit zu helfen, also von Tür zu Tür zu gehen und Jehovas Botschaft zu verkünden. Wenn wir hinter Mutter herstiefelten, von einer Tür in der Nachbarschaft zur nächsten, lernten wir vor allem etwas über Entschlossenheit, wenn auch vielleicht sonst nicht viel.
Ich sah, wie die Vorhänge zuckten, und zählte dann die Sekunden, bis Mutter wieder einmal die Tür vor der Nase zugeknallt wurde. Derartige Ablehnung machte ihr jedoch nichts aus – sie diente Jehova. Heute noch ist sie mit missionarischem Eifer in seinem Namen unterwegs. Die einzige Lektion, die sich aus den Bibelstudien in unseren Köpfen einprägte, war, dass wir in die Hölle kommen würden, wenn wir nicht Jehova dienten und brav in den Königreichsaal gingen. Der Tag unseres Jüngsten Gerichts war Armageddon, an dem alles Böse zerstört und eine neue Welt für die 144 000 Auserwählten geschaffen werden würde. Ob wir dabei gerettet würden, hing von unserer Ergebenheit ab.
Für den Fall, dass unser junger Verstand nicht genug Phantasie für das Weltuntergangsszenario aufbrachte, war im Wachtturm anschaulich dargestellt, wie es an Armageddon aussehen würde. Ich erinnere mich daran, wie ich eines der Heftchen mit Michael durchblätterte und wir die drastischen Illustrationen implodierender Gebäude betrachteten, zwischen denen Menschen in die tiefen Risse stürzten, die sich im Boden auftaten, und dabei verzweifelt und um Errettung flehend die Arme ausstreckten. Unsere Ängste wurden immer größer, wenn wir über die Fragen nachdachten, von denen unser Schicksal abhing. Ehrten wir Jehova auch genug? Waren wir gut genug für das Ewige Leben? Würden wir Armageddon überleben? Und wenn wir Ärger mit Joseph bekamen, hieß das automatisch auch, dass uns Jehova strafen würde?
„Ich will ins Paradies kommen!“, erklärte ich, wobei Angst eine größere Triebfeder war als echte Begeisterung.
„Mutter, werden wir errettet?“, fragte Michael.
Mutter antwortete dann, dass es im Leben am allerwichtigsten sei, gut zu sein, auch zu anderen: Errettet würden jene, die den Glauben bewahrten, missionarisch tätig seien und nach dem Wort der Schriften lebten. Als Erwachsener betrachtete Michael die Illustrationen des Wachtturms lediglich als „symbolische Darstellungen“, aber in unserer Kindheit dachten wir voll Angst darüber nach, ob Jehova wohl merken würde, ob wir brav gewesen waren oder nicht. Wie entscheidend war es, dass Michael den Kindern aus der Nachbarschaft so oft Süßigkeiten abgegeben hatte und ich nicht? Mutter hatte dafür immer dieselbe Antwort: „Keine Sorge, Er sieht alles.“
Und dann war da der bevorstehende Weltuntergang. Wann würde es so weit sein? Nächste Woche? Wie viel Zeit hatten wir noch? Ein wissbegieriges Kind wie Michael dachte unaufhörlich darüber nach. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er zu einem der Ältesten aufsah und eine ernsthafte Frage stellte, und wie man ihm dann den Kopf tätschelte und ihn belächelte. Der erste Armageddon war von unserer Glaubensgemeinschaft für 1914 vorausgesagt worden, und als dann nichts passierte, für 1915 … und wie man sieht, warten wir bis heute.
Doch 1963 war wirklich die ganze Familie Jackson überzeugt, dass es nun endgültig so weit sei. Die Russen schienen fest entschlossen, die USA zu bombardieren, Kennedy war ermordet worden, und dann wurde auch noch der mutmaßliche Täter, Lee Harvey Oswald, erschossen – ein Ereignis, das wir auf unserem Schwarzweißfernseher genau verfolgten. Wir waren felsenfest der Überzeugung, dass all dies das Ende der Welt ankündigte, und wir Brüder waren plötzlich richtiggehend wild darauf, regelmäßig in den Königreichsaal zu gehen und Jehova zu ehren.
Michael sagte immer, er sei im Sinne der Bibel erzogen worden. Tatsächlich war er als Einziger der Jackson 5 getauft. Michael betete, ich nicht. Michael las in der Bibel, ich nicht. Ich wollte nicht, dass Jehova der Allvater war, weil man uns glauben ließ, dass er sich von uns abwenden werde, wenn wir uns nicht gut benähmen. Die Drohung des Verstoßenwerdens, des „Gemeinschaftsentzugs“, stand uns stets vor Augen. Michael sollte später erfahren, wie sich der Verstoß durch Jehova anfühlte, aber während seiner Kindheit war schon allein die Androhung einer solchen Ächtung erschreckend genug.
Mit dem wachsenden Erfolg der Jackson 5 wurde der Glaube für Michael