Krupps Katastrophe. Ulrich Land
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Es mochte eine halbe Ewigkeit vergangen sein. Wahre Sturzbäche von Schweiß waren meinen geplagten Rücken runtergeschossen. Du weißt ja, wie ich schwitzen kann. Mein Hemd war längst nicht mehr in der Lage, auch nur einen einzigen weiteren Tropfen aufzusaugen, die in die Griffe der sperrigen Kofferkisten verkeilten Hände drohten mir von den Armen zu fallen, die Knie windelweich – aber als ich endlich oben auf dem Scheitelpunkt des Inselbuckels angekommen war: der traumhafte Ausblick von der Südküste aufs offene Meer! Ein Ausblick, der mich mehr als entschädigte. Ich latschte – von meiner Ledernackenzähigkeit selbst überrascht – weiter und weiter, bis ich schließlich einen Blick die Klippen runter in die dramatisch steile Bucht da unten werfen konnte: die »Marina Piccola«. Wo sich der weiße Strand mit der kleinen Anlegestelle zwischen hohen, schroffen Kalkfelsen verkrümelt. Jetzt erst blieb ich stehn, atmete durch und, und stand und stand und wartete. Wartete, bis die ersten Abendrotspuren ins Himmelsblau stiegen. Ich nahm mir felsenfest vor, mich nach Erledigung, na ja, vielleicht der Hälfte meines Auftrages mal für ein paar gute Stündchen abzusetzen und hier oben die Kamera in Anschlag zu bringen. Wenn mir in drei Teufels Namen das man gelungen wär! Mich wenigstens für ein halbes Stündchen zu absentieren. Stattdessen: ständig im Einsatz. Aber langsam, langsam. Der Reihe nach!
Folgen wir Fahrenhorsts Erzählungen – und sie seien hier im genauen Wortlaut wiedergegeben, der mir weitestgehend in der Erinnerung haften geblieben ist, da ich mich als Jungspund über Wochen und Monate in ihren Bann hatte schlagen lassen –, so stand er an jenem Abend also ahnungslos auf dem oberen Ausläufer jener Straße, die auf der Südseite Capris in schwindelerregenden Serpentinen steil nach unten zur Marina Piccola führt: die Via Krupp. Benannt nach Friedrich Alfred Krupp, der die Straße um 1900 stiftete. Dieser hatte die Straße so anlegen lassen, dass sie von dem kleinen Hafen aus in mehreren Haarnadelkurven die Augustus-Gärten und endlich die Straßen und Gassen von Capri-Stadt erreicht. Unterwegs aber, in einer der Serpentinen, zweigt ein schmaler Felsenpfad ab, über den man seinerzeit zu einer Höhle namens »Grotta di Fra Felice« gelangte. Dieser »Bruder Glücklich«, ein früherer Einsiedler, wie es heißt, wird die auf etwa 100 Meter Höhe in den Steilabfall gehauene Höhle nicht zuletzt deshalb als seine Eremitage auserkoren haben, weil sie sich Richtung Süden zum Meer öffnet und ein wahrhaft atemberaubendes Panorama bietet.
Mit Krupp wurde ich ohne langes Federlesen handelseinig. Hatte ich mir erheblich schwieriger vorgestellt. Ein ausgesprochen umgänglicher Zeitgenosse. Als ich ihm meine fotografische Ausrüstung zeigte, war er augenblicklich davon überzeugt, dass er’s nicht mit einem Scharlatan zu tun hatte, sondern wie die Jungfrau zum Kinde gekommen beziehungsweise an einen Mann vom Fach geraten war. Auf alle Fälle fand er meine Absicht, ihn hier auf Capri, in seinem so geliebten Refugium fotografisch zu porträtieren, offenbar so berückend, dass er sofort bereit war, meine Dienste mit einem ansehnlichen Salär zu entlohnen. Ohne natürlich zu ahnen, dass diese ja bereits von anderer Seite, und zwar auch nicht grade knausrig honoriert wurden – indirekt ebenfalls aus seiner Schatulle. Aber dazu später. Für mich jedenfalls bot sich die, versteht sich, durchaus verlockende Aussicht, für dieselbe Leistung doppelt einzustreichen. Außerdem hatte mich der Gedanke immer schon fasziniert, mal ein niederträchtiges, ein hundsgemein zweigleisiges Spiel spielen zu können. »Fahrenhorst, der begnadete Doppelagent!«, musste sich doch fantastisch auf der Visitenkarte ausnehmen! Wenn du verstehst, was ich meine.
Diese Perspektive beflügelte mich derart, dass ich die Arbeit sofort aufnahm und den guten Krupp im letzten Licht des Abends noch schnell zwei-, dreimal ablichtete. Zikadenzirpen erfüllte die von der Tageshitze noch nachglühende Luft, und von unten drang das Rauschen der Brandung herauf, die gegen die Steilküste schlug. Wahrhaftig ein grandioses Idyll! Empfindlich gestört jedoch von diesem neugierigen Gimpel, der mir immer wieder unangenehm nah auf den Pelz rückte und Tuchfühlung aufnahm. Tapste die ganze Zeit mit seiner weibisch weichen Hand auf meiner Schulter rum. Brauche ich dir ja nicht zu sagen, wie sehr mir so was gegen den Strich geht. Augenscheinlich jedenfalls war dieses lange, dürre Gestell von keinem anderen Wunsch beseelt, als von Krupp eingeladen zu werden, sich zu ihm zu stellen und also mit auf Platte bannen zu lassen. Krupp aber würdigte ihn keines Blickes und stellte ihn mir beiläufig als einen seiner leitenden Ingenieure vor. Worauf dieser sich nicht entblödete, mit verschnörkeltem Lächeln darauf zu insistieren, dass das hier nichts zur Sache tue und ich ihn doch beim Vornamen nennen möge: Gernot.
»Angenehm, Fahrenhorst mein Name.«
Als aber das Dämmerlicht so schwach geworden war, dass ich auch hier draußen Fotoleuchten hätte einsetzen müssen und also die Kamera vom Stativ schraubte, um sie in die Grotte selbst zu manövrieren, da kamen, lustig vor sich hin pfeifend, die ersten Gäste des Abends über die Via Krupp hinaufgestiegen, nachdem sie unten in der Marina Piccola ihre Boote festgemacht hatten, die, wie man unschwer sah, ihre Besitzer als Fischer auswiesen. Obwohl sie sich jetzt, offenbar aus Anlass der bevorstehenden Lustbarkeiten, in weiße, im letzten Abendlicht hell leuchtende Hosen und seidig wallende Hemden geschmissen hatten. Die Jungs waren eben in der Serpentine angekommen, von wo der Pfad hier rauf zur Bruder-Glücklich-Grotte abzweigt, als unten ein weiteres Fischerboot anlegte. Und auch das warf eine illustre Schar junger Männer von, wie ich neidlos zugeben muss, erlesener Schönheit und mit auffallend weichen Gesichtszügen an Land. Außerdem einen behäbigen, so wohlbeleibten wie wohlgelaunten Kerl, der auf den ersten Blick als Herr von ausgesprochen teutscher Herkunft auszumachen war. Mitten in der Schar ausgelassener Fischerburschen astete er mit immer kürzer werdendem Atem den Berg hinauf. Ein Schauspiel, das ich mit stillem Staunen beobachtete, bis endlich der Teutone schweißtriefend und abgeschlagen als Letzter die in den Fels gehauene Lustlaube hier oben erreicht hatte.
Nach einschlägigen, nicht nur Fahrenhorstschen Überlieferungen hatte Krupp die ›Grotta di Fra Felice‹ im Stil einer mittelalterlichen Einsiedelei mit allerlei gotischem Zierrat und mit einem Komfort, der weit über die nötigsten Bequemlichkeiten hinausging, ausstatten lassen, um dort Bankette und gesellige Zusammenkünfte auszurichten. Die wenigen, aber ausnahmslos auf gepflegte Eleganz bedachten Besucher aus dem fernen Deutschland legten Frack und Vatermörder ab und hüllten sich in wallende Kutten. Während die handverlesenen Capreser, die zu den Festivitäten geladen wurden, jungfräulich weiß, nach Gigoloart gewandet aufliefen. Krupp, der in Essen zwischen dem neobarocken Luxus der Villa Hügel und dem trotz Renovierung immer rußpatinierten Verwaltungstrakt seines vor Produktionseifer und Profitraten glühenden Fabrikgeländes lebte, hatte sich in diesem Felsenloch unter der Sonne Capris einen exklusiven Fluchtpunkt geschaffen, das Vestibül seiner azurblauen Wonnewelten.
Es mochte inzwischen Mitternacht gewesen sein. Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber damit nicht: Krupps Grotte vibrierte! Männer, alles bloß Männer. Weit ausladende Fummel übergeworfen. Sofern sie überhaupt noch was anhatten. Der steinreiche König der Kanonen, musst du dir vorstellen, treibt auf der blütenweißen Insel neckische Spielchen mit einheimischen Fischern! Gut, ich meine, im Grunde hättest du bloß einen Blick in sein rundes, weiches Gesicht werfen müssen, um auf den Gedanken zu kommen, dass, nun ja, dass er dergleichen, sagen wir: extraordinären Sinnenfreuden zugetan sein mochte.
Die Lustbarkeit jedenfalls nahm ruckzuck den Charakter eines weinseligen Gelages an. Aus einer der hinteren Felsnischen