Krupps Katastrophe. Ulrich Land
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Schließlich war mein Großvater, als er mit dieser Story rausrückte, beileibe nicht mehr der Jüngste. Er hat sie zurückgehalten, bis ich genau das Alter erreicht hatte wie er damals: 25. 1967, die Studentenrevolte kam allmählich in Gang, was er mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm, als Neunzigjähriger also nahm er mich zur Seite und erzählte mir brühwarm diese hanebüchene Geschichte, die sich in seinem fünfundzwanzigsten Jahr zutrug. Und die er in den sechseinhalb Jahrzehnten seither eifrig ausgeschmückt haben mochte.
Werfen wir, um das schillernde Verhältnis zwischen Facts und Fiction in den mitunter etwas grob gewirkten Vernetzungen seines Berichts zu verdeutlichen, einen abgeklärten Blick aus der zeitlichen Distanz auf die Rollen und ihre Darsteller: Großvater Fahrenhorst hat ganz fraglos den Reigen der real existierenden Protagonisten – nach dem Motto: üppige Szenerie belebt das Geschäft – angereichert um etliche seiner Fantasie entsprungene Figuren. Versteht sich von selbst, dass auch bei diesen – fast – frei erfundenen Akteuren Ähnlichkeiten mit damals lebenden Größen weder unbeabsichtigt noch vermeidbar sind. Andere Herrschaften dagegen sind tatsächlich ganz realiter in Erscheinung getreten. Sämtliche hier und später auftretenden Krupps zum Beispiel. Ebenfalls der Zeichner Allers, wie gesagt. Und, versteht sich, seine Majestät Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen, von dem an späterer Stelle noch die Rede sein wird.
Ob es aber stimmt, dass, wie mein Großvater beteuerte, er selbst der Dreh- und Angelpunkt dieser unsäglichen Geschichte war, der Mittelpunkt des Spinnennetzes, wo alle Fäden zusammenliefen, oder ob das möglicherweise nur seiner blühenden Fantasie entsprungen sein mag, ist keineswegs eine ausgemachte Sache.
Mitten in diesem ausgewachsnen Höhlentohuwabohu schrie ich Krupp nach Leibeskräften an, wenn er seine Bluthunde nicht augenblicks zurückpfeife, dann werde er aus diesem Possendrama hier nicht mit heiler Haut rauskommen. »Dafür werde ich sorgen, so wahr ich hier stehe!«
Wodurch sich Allers veranlasst fühlte, mit weichweinerlicher Stimme zu sülzen, man solle doch um Gottes Willen nicht derart grob zueinander sein, der Abend habe doch so herrlich einvernehmlich angefangen. »Und nun das!« Aber diese Harmonie- und Freudebeschwörung verhallte genau wie meine Warnung an Krupps Adresse ungehört im Gebrüll der Capreser Kerle, unter denen sich besonders Giovanni mit schrillen »Avanti avanti!«-Rufen hervortat. Ich setzte also noch mal nach und schrie mit der ganzen Stimmkraft eines Todgeweihten: »Überlegen Sie sich das gut, Krupp, wenn Sie mich hier abservieren, das überleben Sie nicht!«
»Ihr wollt dem größten Stahlbaron Europas drohen! Dass ich nicht lache. Geht mir aus der rosa Sonne Capris, Knipser, schmieriger!«, versetzte Krupp. Er hatte sich offenbar von seiner asthmatischen Schwächeattacke erholt, trug seine Offensive jedenfalls einigermaßen überzeugend vor.
Man musste schon ziemlich mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu merken, dass inzwischen auch der allerletzte Rest der schwülamüsanten Atmosphäre verflogen und ausuferndes Schwadronieren keineswegs mehr angezeigt war, trotzdem ließ Allers sich nicht davon abhalten, mit seinem Toast auf die Knabenbelustigung fortzufahren: »Hach, Leute, wir werden uns doch nicht Lust und Laune und Lust verderben lassen! Die Orgie hat schließlich grad erst angefangen. Angefangen erst. Ihr werdet doch nicht auf halber Strecke schlappmachen. Ohne Gomorrha, Leute, ist das schönste Sodom nichts, rein gar nichts!«
Krupp aber kochte! »Ich geb mich doch nicht her, hier Pose zu sitzen vor diesem albernen Apparat, wenn der Meisterfotograf anschließend wie verrückt um sich schießt mit seiner Kamera und die Fotos meistbietend an die geifernde Presse verhökert. Jungs, zieht ihm die Platte aus der Kiste und schmeißt ihn raus, aber achtkantig!«
»Dass nickt mehr weiß, wo Glocken eiern!«, war Giovanni zur Stelle und schob seinem Sätzchen kurzerhand selbst ein ausgiebiges Lachen hinterher. Als keiner so recht in sein Ziegenbockkichern einstimmen wollte, zog er die Augenbraue hoch und gab seinen Kumpanen einen Wink, die nächste Angriffswelle gegen mich anrollen zu lassen.
Die Jungs drückten den Rücken durch, ballten die sehnigen Fäuste, summten als Schlachtmusik wieder diese unsägliche Schnulze und machten ein, zwei Schritte auf mich zu. Eiligst, bevor der Kreis zu eng zu werden drohte und ich mit der Kamerakeule nicht mehr hätte gescheit Schwung holen können, ließ ich das Gerät mit seinen staksigen Beinen einen respektheischend ausladenden Kreis vollführen. Einen der Fischerknaben, der sich von hinten angeschlichen hatte und mir, wie ich jetzt erst bemerkte, reichlich nah gekommen war, traf die schwere Kiste volle Breitseite irgendwo zwischen Nieren und Becken. Er krümmte sich und hauchte »Merda«, während einige seiner Kollegen sich um ihn scharten und mich mit zorngeröteten Augen anblitzten.
Aber Giovanni schien der Schreck in die weingetränkten Glieder gefahren zu sein. Er hatte offenbar endlich begriffen, dass dieses Spielchen hier verdammt bitterer Ernst war. »Capitano, der nix will nach draußen«, wisperte er.
Und auch der dicke Teutone jammerte: »Jetzt lasst ihn doch! Lasst ihn. Das ist doch überhaupt gar nicht schön, was ihr da macht. Komm, Fritz, dein bunter bunter Abend geht munter weiter!« Worauf er, offensichtlich immer noch beseelt von der Hoffnung, das Ruder rumreißen zu können, flugs noch ein schmalztriefendes Jubilato anschloss: »Deine herrliche Feier war doch grade auf dem Höhepunkt, wenn ich mal so sagen darf, haha Höhepunkt ja. Da muss noch mehr Lust in die Luft, Genuss in den Fluss, Kerle, hebt die Becher, dass das Zeug nur so gluckert, das Zeug, Kerle, tanzt die Tarantella! Musike!! Lasst uns den hellen Mond begießen und genießen!«
Zumindest die Mandolinen in ihrer Felsnische dahinten schienen sich angesprochen zu fühlen und nahmen die Arbeit wieder auf. Was nun allerdings wiederum Krupp missfiel: »He hallo, Ruhe da! Allers, die Musik zahle immer noch ich. Und wenn ich sage, die Musik schweigt, schweigt die Musik.« Und die Mandolinen verstummten. Die Spieler gönnten ihnen nicht mal ein kurzes Nachklingen, drückten die Saiten wenig zartfühlend mit dem Daumen überm Schallloch ab. »Dionysos lässt sich nicht in die Suppe spucken«, knurrte Krupp. Und wie erlöst brüllten die Sündenspielkameraden endlich wieder ihr »Bravo, bravissimo capitano!« Worauf Krupp ein »Schon gar nicht von so einer hergelaufenen Dunkelkammerassel!« nachschob.
Da das geneigte Lesepublikum sich scheinbar immer noch nicht von der Lektüre hat abbringen lassen, wollen wir an dieser Stelle noch einmal – allerdings nun letztmalig – die obige Warnung wiederholen, dass es hier und später kaum möglich sein wird, die historische Wahrheit herauszudestillieren aus diesen Hirngespinsten eines, als er sie zum Besten gab, hochbetagten, als er sie erlebte, greenhornjungen Mannes. – Also bitte sehr! Und sagen Sie nachher nicht, man hätte Sie auf die im weiteren Verlauf des Traktats unumgängliche Irritation nicht nachdrücklich hingewiesen!
Was indes fraglos richtig, also historisch verbrieft ist, das ist diese bemerkenswerte Mutation Krupps, diese zwei Seelen ach in seiner Brust, um nicht zu sagen: seine Janusköpfigkeit! Auf der einen Seite gab er in seinem exquisiten Kaninchenbau mit großer Geste den Zampano. Auf der anderen Seite bekam er nüchtern die Zähne nicht auseinander. Hätte man nicht gewusst, welches Geld, welche Macht er besaß, man hätte ihn angesichts seines zurückhaltenden Auftretens im Essener Alltag für ein verschüchtertes Bürschchen halten können. Keinesfalls jedoch hätte man diesem in seiner Asthmaanfälligkeit eher gebrechlichen Hasenfuß, diesem untersetzten, kurzsichtigen Mann mit der spitzen abwärts weisenden Nase, dem geschwungenen Schnäuzer und der rosa durchscheinenden Haut zugetraut, ein derart riesiges Industrieimperium zu steuern. Was Friedrich Alfred unwillig zwar, aber, wie wir aus den historischen Quellen wissen, ausgesprochen souverän, gradezu mit links absolvierte. Und bei aller Zurückhaltung mit durchweg professioneller Contenance.
Eher aus preußisch staatsloyalem und familiärem Pflichtethos denn aus innerer Überzeugung