Krupps Katastrophe. Ulrich Land
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»Wie bitte – wie meinen Sie das?« Es gelang mir nicht im mindesten, die Verwirrung zu verbergen, die dieser Satz in meinem geplagten Schädel anrichtete, der noch keinen Augenblick zur Ruhe gekommen war nach dieser Reise, die an – im wahren Sinne des Wortes – sich überschlagenden Ereignissen ja nun nicht arm gewesen war.
»Keine Angst« – also das musst du dir auf der Zunge zergehn lassen, wie die mich hier zerpflückte –, »ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie immer den Kern der Wahrheit ausgespart haben.«
»Ich, ehm ... Ich hab noch ein zweites Foto geschossen von Ihrem Mann, als er grade in fröhlicher Gesellschaft war mit einer illustren Schar von Fischerburschen«, stammelte ich und hoffte, damit fürs erste aus der Bredouille zu kommen.
»Das stand nämlich alles in zwei Briefen an mich«, vernichtete sie meine Hoffnung im Handumdrehn, »die ganze unsittliche Betriebsamkeit meines Mannes auf Capri haarklein beschrieben! In zwei anonymen Briefen. – Fahrenhorst, haben Sie eine Ahnung, wer der Absender sein könnte?«
»Werd ich umgehend rausfinden«, war ich einigermaßen flott zur Stelle. Unter meinem Schädeldach aber schlugen die Gedanken Kapriolen. Wie in drei Teufels Namen war hier eine auch nur halbwegs schlüssige Logik in den Gang der Ereignisse zu bringen?! Mal zurück zu Gernot, ich meine, kannst du dir einen Reim auf dessen Naivität machen? Als systematisch denkendem Ingenieur hätte ihm doch nun wirklich von vornerein klar sein müssen, dass Fritze Krupp mit Kampagnen gegen den Paragraphen 175 nichts würde zu schaffen haben wollen, auf den Tod nicht. Hätt’ er sich ja offenbaren müssen. Und das bei seiner kruppstahlharten Gesetzestreue! Jede Wette, dass der sich sowieso mit Gewissensbissen der übelsten Sorte rumschlug. Da kam er doch überhaupt nicht drumrum, dem Gernot den Tritt der Tritte zu verpassen. Klar, dass der Herr leitende Ingenieur daraufhin am Boden zerstört war; schließlich war ihm da – schnack – die Beziehung zu einem stinkreichen Bewohner des Olymps weggebrochen. Und vielleicht, ich meine, wer will das wissen, wirst du auch nicht von der Hand weisen können, vielleicht hat er Krupp ja tatsächlich geliebt. Soll selbst unter Schwulen vorkommen. Jedenfalls weidwund wie er war, hat Gernot sich dann wahrscheinlich postwendend hingesetzt und die anonymen »Aufklärungsbriefe« an Krupps Frau geschickt. Rache pur. Oder, was meinst du – obwohl du kennst ihn schließlich auch nicht besser als ich, trotzdem: Meinst du, es ist sogar denkbar, dass er, wo er schon mal dabei ist, kurzerhand seine weltpolitischen Maximen über Bord kickt und die italienische Presse auf den Stand bringt über das, was der deutsche Eisenbaron auf Capri so treibt? Eher unwahrscheinlich, oder? Wie also kam dann die Meldung in dieses linke Käseblatt aus Neapel, wo die ganze Chose öffentlich ausgebreitet wurde? Davon allerdings konnte die Krupp nun überhaupt gar nichts wissen – war ja wohl kaum von auszugehn, dass sie allmorgendlich die revolutionäre italienische Provinzpresse studierte.
Zunächst hatten die italienischen Behörden vorsichtig Bedenken angemeldet und durchaus noch wohlmeinend durchscheinen lassen, man werde dem unrühmlichen Treiben in der ›Grotta di Fra Felice‹ nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag tatenlos zusehen. Bereits im September 1902 dann gab es erste, noch leidlich diskrete Meldungen in italienischen Zeitungen, bis am 15. Oktober schließlich das neapolitanische Blatt »La Propaganda« in elegischer Breite schilderte, was sich so alles bei Krupps Banketten zugetragen haben mochte. Ein Artikel, den sich sodann der sozialdemokratische »Vorwärts« zu Herzen nahm, um auf dieser Grundlage genau vier Wochen später einen ähnlich detaillierten Beitrag zu veröffentlichen, mit allerdings, wie wir wissen, durchschlagender Wirkung.
Während ich mir noch den Kopf zerbrach, hatte Margarethes Krämerseele die Arbeit längst in gewohnter Routine wieder aufgenommen. »Was die entsprechende Extraprämie für die Ermittlung des Absenders dieser Briefe angeht, Fahrenhorst«, sagte sie unvermittelt, »da werde ich mich nicht von der knausrigen Seite zeigen. Aber sorgen Sie mir dafür, dass der Briefschreiber sich bedeckt hält!«
Hinter der kühlen Fassade Margarethe Krupps muss es, nach dem zu urteilen, was Großvater Fahrenhorst mir erzählte, gekocht haben. Bei hinreichend kriminalistischem Spürsinn, wie wir ihn meinem Großvater unterstellen wollen, konnte man leicht auf die Idee kommen, diesen Umstand als Indiz dafür zu deuten, dass auch Frau Krupp, was das – wie noch zu berichten sein wird – unsanfte Ende ihres Mannes anging, in den engeren Kreis der Verdächtigen einzureihen war. Nervosität, zumal versteckte, ist bekanntermaßen ein Verdachtsmoment erster Güte!
3
Nicht lange nach meinem steilen Abflug wird sich in der ›Grotta di Fra Felice‹ die illustre Gesellschaft allmählich aufgelöst haben. Die Capreser Jungs verdünnisierten sich vermutlich in den frühen Morgenstunden, nicht ohne flugs noch mal eben die Penunzen nachzuzählen, die der deutsche Stahlbaron ihnen zum Abschied zugesteckt hatte, sei’s als Schweigegeld, sei’s als Lohn für ihre speziellen Dienste. Gernot und Krupp selbst gönnten sich noch zwei, drei Tage auf Capri, um die Wunden zu lecken. Dann trat auch Krupp mit seinem Ingenieur im Schlepptau die Rückreise an, und Allers zog sich zurück in seine Villa. Was mir alles dieser jungeifrige Informant berichtete, den ich seinerzeit ja bereits an Bord der Fähre aufgetan hatte.
Ganz in der Nähe der Via Krupp lag die Villa Tragara alias »Villa Allers«. Der Maler hatte sie Anfang der 1890er Jahre bauen lassen, bezahlt vom Verkaufserlös seiner Buchillustrationen und vor allem seiner zur damaligen Zeit viel beachteten Mappen mit Zeichnungen. Was die Architektur seiner Villa anging, bediente er sich des traditionellen Capreser Formenkanons und stattete seine Veranda mit weinüberwucherten Pergolas und Säulenreihen aus. Und mit einer Steinbank, deren Sitzfläche auf weiß verputzten Rundbögen ruhte, die an den »Arco Naturale« erinnerten, jenen wenn auch nicht weißen Klippenrundbogen, der unten mit nassen Füßen vor der Küste steht, gleich vis-a-vis der Villa, im leuchtend blauen Wasser draußen.
Wenn er nicht gerade auf einer seiner vielen Reisen war, saß Allers mit Vorliebe auf eben dieser Bank, eine Karaffe Rotwein und eine Schale Früchte auf einem wilhelminisch verschnörkelten Tischlein daneben, umarmte seine Plauze und blickte hinaus aufs Meer, das unten gegen die Steilklippen brandete und sich in weiter Ferne an den Himmel schmiegte.
Weiß ich nicht, ob man sich auf meinen Informanten verlassen kann, aber dass der dicke Teutone die Tage nach dieser Nacht der tödlichen Turbulenzen nutzte, um die Szenen des dionysisch ausgeuferten Spektakels in einem ganzen Stapel von Zeichnungen festzuhalten, das trifft mit Sicherheit zu. Selbstverständlich in einem geheimen Skizzenbuch, das Wochen später auf mindestens ebenso geheimen Wegen in meine Finger geraten sollte. Zu treuen, zu äußerst treuen Händen, wie sich versteht. Nur so viel: Es handelt sich um Zeichnungen, die kein Blatt vor die Augen nehmen. Das ganze schwül ambrosische Ambiente, die mandolinenplinkernde Combo, die pokulierenden Jünglinge in ihrer ganzen Schönheit, nackt wie Gott sie geschaffen hatte. Und sogar die Szene, als Krupp und dieser Giovanni dem langen Gernot und seiner kurzen Wurzel so zusetzten. In allen, ich sage: in allen Einzelheiten! Auch die Aktzeichnungen, die er von dem ein oder andern Fischerburschen anfertigte, waren, was die Offenherzigkeit en detail angeht, nicht grade zimperlich. Er setzte den Jungs Lorbeerkränze auf, postierte sie malerisch auf ein Mäuerchen vor fleischiger Flora und ließ ihre ohnehin spärlichen Gewänder fallen. Oder er hieß einen noch mal die Grottenkutte anziehn, gab einem andern Lanzen und Säbel mit üppigen Knäufen in die Hand. So soff Allers sich ein ums andre Mal satt an den Eindrücken, die diese Nacht der Nächte bei ihm hinterlassen hatte.
In eben jenen Tagen machten auf Capri die wüstesten Gerüchte die Runde über das, was sich in der Bruder-Glücklich-Grotte so alles zugetragen haben mochte. Gerüchte, die hartnäckig behaupteten, der wohlbeleibte deutsche Zeichner wär unter den höchst zweifelhaften Gästen gewesen und habe bei all den sündigen Umtrieben kräftig mitgemischt. Wo diese Meldungen ihren Ursprung nahmen und wie es ihnen letztlich gelang, bis in Allers’ Refugium vorzudringen, das kann ich dir auch nicht sagen. Jedenfalls stieg ihm der Dampf der Gerüchteküche in die Nase. Und – was macht er? Erst mal natürlich mit großer Geste bestreiten, überhaupt