Satzfetzen. Isabel Morf
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Valerie zuckte die Schultern und schob sich den Rest ihres Toasts in den Mund. Dann spekulierte sie: »Vielleicht will Angela mit der Schließung des Flohmarkts quasi ihren Sündenfall aus der Welt schaffen. Das wäre die psychologische Erklärung.«
»Das tönt eher biblisch«, meinte Beat.
»Würde auch passen«, gab Valerie zu. »Fritz Legler, ihr Mann, ist ja Pfarrer. Bisschen hardcore.«
»Hardcore?«, fragte Beat verständnislos.
»Na ja, ein Fundi. Evangelikal. Streng moralisch, aber auch schwärmerisch. Würde man auf den ersten Blick gar nicht denken. Er versucht ja, die Jungen zu gewinnen mit seinen Velogottesdiensten in freier Natur. Kleine Radtour aufs Land, dort Predigt, Gesänge und Gebete. Nachher Picknick. Aber die Predigten haben es in sich, hab ich gehört. Aufrufe zu Reue und Buße. Keine Ahnung, was Angela an dem findet.«
»Ist mir auch egal«, brummte Beat. Er hatte eine kleine geheime Privatfehde mit der Politikerin. Er nahm es ihr übel, aber das sagte er Valerie natürlich nicht, dass sie dazu beigetragen hatte, dass der Mutterschaftsurlaub für Kantonsangestellte verlängert worden war. Das bedeutete nämlich, dass er länger auf seine Mitarbeiterin Zita Elmer verzichten musste, die vor drei Monaten ein Baby bekommen hatte. Man hatte ihm zwar einen Ersatz angeboten, aber Streiff konnte mit dem übereifrigen, ungeschickten jungen Schnösel, Melchior Zwicky hieß er, nicht viel anfangen. Er vermisste die robuste, gescheite Elmer. Ob sie wirklich so gescheit war?, zweifelte Streiff manchmal schlecht gelaunt, wenn ihm die Arbeit wieder mal über den Kopf wuchs. Warum hatte sie sich dann ein Baby zulegen müssen? War doch gar nicht der Typ dafür. Na ja, vermutlich die Hormone. Er war froh, dass sich diese Frage bei Valerie und ihm nicht stellte; sie war 48, er bald 52.
Dafür stellte sich ihm ab und zu eine andere Frage. Seit vier Jahren waren Valerie und er jetzt zusammen, beide hatten sie ihre Wohnung behalten, mal waren sie bei ihm, mal bei ihr. Valerie schien mit der Situation zufrieden zu sein, sie hatte das Thema nie angeschnitten. Er auch nicht. Aber manchmal dachte er, ob es nicht vielleicht auch ganz schön wäre zusammenzuwohnen. Er hätte gern gewusst, wie sie darüber dachte. Aber er hatte sie bis jetzt nicht fragen mögen. Vielleicht fühlte sie sich dann eingeengt und das wollte er nicht. Oder erwartete sie im Gegenteil, dass er das Thema aufs Tapet brachte? Und wie würde man das dann bewerkstelligen? Würde er bei ihr einziehen? Sicher nicht. Nicht in die Wohnung, in der sie mit Lorenz Stucki, dem Quacksalber, wie er ihn bei sich nannte, zusammengelebt hatte. Oder würde sie zu ihm ziehen? Würden sie zusammen eine neue Wohnung suchen? In Zürich eine schöne und bezahlbare Wohnung zu finden, war in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Beat schob den Gedanken wieder einmal beiseite.
»Komm«, sagte er stattdessen, »trink deinen Kaffee aus, dann können wir gehen. – Ja, du kommst auch mit«, wandte er sich an Seppli, der an Beats Tonfall erkannt hatte, dass der Tag nun in Schwung kam, und eilends unter dem Tisch hervorsprang. Sollte ihm ja nicht passieren, dass man ihn etwa vergaß.
Valerie band rasch ihre braunen Locken zusammen und steckte sie unordentlich am Hinterkopf fest. Sie war soweit ganz zufrieden mit ihrem Spiegelbild. In den letzten paar Jahren hatte sie drei Kilo zugenommen, aber das stand ihr gar nicht schlecht, fand sie. Sie mochte ihre braunen Augen, ihren wachen Blick. Manchmal schienen ihr ihre Gesichtszüge etwas zu weich zu sein, aber Beat hatte erklärt, bei ihrem Temperament schade es nichts, auch etwas Sanftes an sich zu haben. Sie schlüpfte in ihre moosgrüne Lederjacke und sagte: »Weißt du, ich möchte einen schönen, hohen Kerzenständer finden. Wäre doch gemütlich für lange Winterabende.«
»Und ich brauche eine neue Kaffeemaschine«, meinte er.
»Neu ist gut. Das ist doch gefährlich. Eines Tages wird dir so ein Secondhand-Ding einen tüchtigen elektrischen Schlag versetzen. Wenn du sie wenigstens nach dem Kauf zur Überprüfung zu einem Elektriker bringen würdest.« Sie begriff seine Vorliebe für Kaffeemaschinen, CD-Player und TV-Geräte vom Flohmarkt nicht.
Valerie und Beat schlenderten die Stauffacherstraße hinauf, vorbei am Volkshaus, und überquerten die Straße. Valerie fand es umständlich, Bus oder Tram zu nehmen, während Beat nicht gern Rad fuhr. Deshalb waren sie zusammen oft zu Fuß in der Stadt unterwegs, ein Arrangement, das auch der Hund schätzte. Eine ältere Frau kam ihnen entgegen. Sie grüßte Beat mit Namen, nickte Valerie freundlich zu und machte Anstalten stehenzubleiben. Beat grüßte mit einem halben Lächeln kurz zurück und wollte weitergehen. Aber Valerie blieb stehen und wechselte mit der Frau ein paar Worte, während Beat stumm daneben stand.
»Haben Sie den Lärm letzte Nacht auch gehört?«, wandte sich die Frau jetzt Beat zu. »Ich glaube, es war Elmiger vom vierten Stock, der Besuch hatte. Um halb drei sind seine Gäste das Treppenhaus heruntergepoltert.«
Valerie schien, dass Beat aufatmete. Was hat er nur, dachte sie.
»Nein«, sagte Beat jetzt, »ich war letzte Nacht gar nicht da.«
»Na, dann haben Sie Glück gehabt«, meinte die Frau, wünschte ein schönes Wochenende und verabschiedete sich.
»Was hattest du denn?«, fragte Valerie. »Du hast zuerst so unfreundlich gewirkt. Frau Luchsinger ist doch nett.«
»Ach, manchmal ist sie so geschwätzig«, erwiderte Beat. »Ich dachte, wenn wir stehen bleiben, kommen wir nie wieder weg.«
Aber das war eine glatte Lüge. Es war Beat Streiffs bestgehütetes Geheimnis, dass er an Prosopagnosie litt. Zum Glück nur an einer sehr milden Form. Die meisten Gesichter konnte er problemlos wiedererkennen, aber bei manchen hatte er Mühe. Dummerweise konnte er sich gerade das Gesicht seiner Nachbarin, Else Luchsinger, einfach nicht merken, obwohl sie schon einige Jahre im gleichen Haus wohnten. Traf er sie im Treppenhaus oder in der Waschküche an, wusste er, dass sie es war, denn sie war die einzige ältere Frau im Haus. Allerdings gab es auch da Fallstricke. Einmal hatte er eine Frau mit ›Guten Tag, Frau Luchsinger‹ begrüßt, aber da war es die Mutter von Elmiger gewesen. Außerhalb des Hauses hatte er keine Chance, die Frau zu erkennen. Erst als sie den Nachbarn im vierten Stock erwähnt hatte, war ihm aufgegangen, wer sie war. Nicht einmal Valerie wusste von seiner Schwäche und bei der Polizei selbstverständlich auch niemand. Obwohl es ihm durch langjährige Übung gut gelang, dieses Manko zu überspielen und zu kompensieren, machte es ihn innerlich oft unsicher, wodurch er dann unfreundlich wirkte. Aber das schien ihm das kleinere Übel zu sein.
Valerie und er näherten sich dem Kanzlei-Areal.
»Guck mal, da ist doch etwas im Gange!«, sagte Valerie.
Es herrschte nicht das übliche lebhafte, laute, aber friedliche Durcheinander, das normalerweise den Flohmarkt prägte. Die Stände, die am Rand lagen, waren verlassen. Niemand schien sich im Moment für zerfledderte Comics, Handys der vorletzten Generation oder Lammfelljacken aus den 70er-Jahren zu reißen. Eine unruhige Menschenmenge drängte sich im Zentrum zusammen, es waren Buhrufe zu hören, die Stimmung schien angespannt bis aggressiv. Valerie spürte, wie Beat sich in Streiff verwandelte. Es waren nur Winzigkeiten, die sich in seinem Blick, seiner Haltung, seinem Schritt veränderten. Jetzt war er der Polizist, der eine Situation zu analysieren hatte, abzuschätzen versuchte, ob da etwas aus dem Ruder lief. Sie gingen auf die Menschenmenge zu. Streiff drängte sich hindurch.
In der Mitte, umringt von warm eingepackten Flohmarkthändlern und Kunden, es war ja schon November und morgens ordentlich