Krähwinkeltod. Thomas L. Viernau
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Die Kappenbachs zuckten immer mit den Schultern, wenn andere sie fragten, warum sie in dem gottverlassenen Nest ein Grundstück gekauft hatten. Sie hatten sich eben für das Dorf entschieden. Vielleicht mochten sie ja genau die Ruhe und Abgeschiedenheit. Sie waren bodenständig, gingen selten aus und schienen auch sonst keine Hobbys zu haben, die sie von ihrem Grundstück wegzogen. Im Sommer sah man Silke Kappenbach in einem albernen Bikini mit Rüschen am Beckenrand des Swimmingpools liegen, während ihr Mann sich um den korrekten Heckenschnitt bemühte. Der Nachwuchs war mit Oma und Opa im Grasgarten zugange und entdeckte Schmetterlinge und andere Kerbtiere. Haus Nummer Vierzehn war eine moderne Idylle. Alles hatte seinen Platz und seinen Sinn.
Der Freitagabend war für Familie Kappenbach Junior schon entspannte Freizeit, Einstieg ins Wochenende. Marius half seiner Frau, die großen Einkaufstüten ins Haus zu schleppen. Am Sonntagnachmittag wollten sie grillen. Eine Tüte war gefüllt mit Steaks, Würstchen, Schaschlik-Spießen und Putenbrustschnitzelchen. Auch ein Fünfzehn-Liter-Fässchen mit Bier rollte Marius ins Haus. Gäste wurden erwartet.
Erhard Kappenbach sah dem ganzen Treiben skeptisch zu. Dass die jungen Leute grillen wollten, hatten sie ihm noch gar nicht gesagt. Gerade wollte er einen Kommentar abgeben, als Marius ihn anblaffte. Ob er seinen Golf da wegfahren könnte, denn am Sonntag kämen doch Gäste, da würde der Parkplatz benötigt.
Erhard wollte etwas erwidern, hatte schon Luft geholt, ließ es dann doch bleiben. Diskussionen dieser Art hatte es im Hause Kappenbach schon oft genug gegeben. Es war sinnlos. Er winkte ab und ging zurück in seine Haushälfte.
Seine Frau Gisela erwartete ihn schon. Sie wusste natürlich Bescheid. Aber sie schien darüber nicht sonderlich überrascht zu sein. Marius war der einzige Sohn der Kappenbachs. Sein Wohlergehen war das einzige Lebensziel von Gisela Kappenbach. Auf ihr Betreiben wurde schließlich auch das Haus samt Grund und Boden Marius übertragen. Wer sollte sich denn um sie kümmern, wenn sie alt und krank würden?
Daher sollte Marius so früh wie nur möglich an das Grundstück samt deren Bewohner gebunden werden. Das waren ihre Hintergedanken. Sie kannte die Tragödien in den vielen Nachbarshaushalten. Die Alten blieben zurück, die Jungen zogen weg.
Sie konnte es jeden Tag beobachten. Gleich neben ihrem Grundstück lag der Hof Nummer Sechs der Baierstedts. Alte Bauernfamilie, drei erwachsene Töchter, allesamt weggezogen. Sie lebten mit ihren Familien weit entfernt, kamen nur alle paar Monate vorbei, blieben ein, zwei Tage und verschwanden wieder, ihre Eltern in der abgeschiedenen Trostlosigkeit ihres Dorfes zurücklassend. Kein Mensch kümmerte sich ansonsten um sie.
Aus der nahen Kreisstadt kamen zweimal täglich die jungen Damen vom Pflegedienst und verrichteten die notwendigsten Handgriffe. Der Hof jedoch erstarrte in einer Zeitschleife. Man sah es den Gärten an, keine pflegende Hand sorgte für den Baumschnitt, anstelle der Beete wucherte überall Gras und die einst mit Tieren gefüllten Stallungen waren allesamt verwaist.
Ab und zu schlurfte der alte Mann oder dessen Frau über den Hof, spürte dem vergangenen Leben nach, um dann wieder kopfschüttelnd zurück ins Haus zu gehen.
Baierstedts waren inzwischen im Pflegeheim in Lindow. Der Hof blieb ohne Bewohner zurück.
Nein, so wollten Kappenbachs Senior nicht enden. Da nahm man eben auch die arrogante Attitüte des Sohnes und die schnippische Wesensart der Schwiegertochter in Kauf, zumal sie ja den kleinen Enkelsohn oft zu ihnen rüberbrachten, der für freudige Abwechslung bei Kappenbachs Senior sorgte.
Gisela Kappenbach hatte Probleme mit ihrer Hüfte. Ein künstliches Hüftgelenk hatte zwar die Schmerzen beim Laufen mildern können, aber sie war stark eingeschränkt in ihrer Bewegungsfreiheit. Treppensteigen bereitete ihr Höllenqualen, längeres Stehen ebenfalls. Meistens saß sie in der Küche auf ihrem bequemen Stuhl und beschäftigte sich mit dem Verarbeiten der Schätze aus ihrem Garten. Erhards »grüner Daumen« ließ alles in großer Menge und bester Qualität wachsen und reifen.
Zu jeder Jahreszeit, abgesehen vom Winter, hatte sie zu tun, alles zu zerkleinern, einzukochen, einzufrieren und einzukellern.
Der Keller der Kappenbachs war wohlgefüllt mit Dutzenden Einweckgläsern voller Obst, Bohnen, Erbsen, Beeren und sauer eingelegtem Gemüse. Der Sommer war lang und warm, die Ernte entsprechend groß. Jetzt zum Ende des Septembers kamen noch zahlreiche Tomaten, Gurken und Paprika aus dem kleinen Gewächshaus hinzu, dass von den jungen Leuten etwas hochtrabend als »Wintergarten« bezeichnet wurde. Auch die Äpfel, Pflaumen und Birnen warteten noch auf ihre Ernte.
Gisela Kappenbach seufzte. Heute Abend wollte sie eigentlich noch einmal ihre Schwester besuchen, die am anderen Ende der Straße lebte.
Irene Flumming war drei Jahre älter als sie und seit zwei Jahren verwitwet. Sie lebte allein in dem großen Haus mit der Hausnummer Zehn. Irene hatte keine Kinder. Gisela bekam immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie an Irene dachte. Aber Irene war ein eigenwilliger Mensch. Sie beharrte darauf, dass sie gut allein mit allem zurechtkam und dass Alles, genauso wie es war, Bestens sei. Die beiden Frauen fuhren drei- bis viermal wöchentlich mit dem Auto in die Stadt zum Kaffeetrinken.
Am Markt gab es ein Café, in dem man stundenlang sitzen konnte und das Gefühl hatte, mitten im Leben zu sein. Ab und zu kam auch eine Bekannte vorbei, setzte sich mit dazu und man tauschte die neuesten Klatsch- und Tratsch-Geschichten aus. Es gab immer etwas, worüber man spekulieren konnte oder wo es Gerüchte gab.
Währenddessen kümmerte sich Erhard um das Anwesen. Er hatte sich eine Liste gemacht, auf der penibel alle Aufgaben notiert waren, die in der Woche erledigt werden sollten. Erhard arbeitete früher als Ingenieur, war es gewohnt, systematisch vorzugehen. Manchmal begleitete er seine Frau und die Schwägerin ins Café, aber eigentlich langweilte ihn das Herumsitzen und Stöbern in den Privatangelegenheiten wildfremder Menschen.
Da war er doch lieber mit seinen Pflanzen im Garten zusammen. Ab und zu besuchten ein paar gesellige Rabenvögel seine Obstbäume. Sie saßen gutgelaunt in den Ästen, krakeelten ein bisschen herum und flatterten nach ein paar Minuten wieder davon. Seltsamerweise fühlte sich Erhard Kappenbach durch die Besuche der Schwarzgefiederten erheitert.
Er hatte sich auch diesen Freitag wieder in sein Rückzugsgebiet begeben. Weder hatte er Lust, mit seiner Frau über die Laster und Gebrechen der übrigen Dorfbewohner zu sprechen noch mochte er den jungen Leuten über den Weg laufen, die sowieso nur mit sich selbst beschäftigt waren.
Hier hinten im Garten war er mit sich und der Welt im Reinen. Mit Stolz begutachtete er die zu erwartende Apfelernte und prüfte die Pflückreife der großen Pflaumen. Noch ein paar Tage …
Gisela war mit ihrem Elektroroller zu ihrer Schwester gefahren. Gut so! Endlich war Ruhe. Manchmal ging ihm Gisela mächtig auf die Nerven mit ihrer Art.
Alles war schlecht, was er machte. Nichts konnte er ihr recht machen. Dabei hatte er doch den gesamten Haushalt bestens im Griff. Alle Dorfbewohner, die er kannte, hatten Respekt vor seinen Hausmeisterqualitäten und bewunderten seine sichere Hand beim Planen und Bauen. Nun ja, er war eben Ingenieur …
III
Das Dorf, Haus Nr. 10
Freitag, 28. September 2007
Das