SchattenHaut & SchattenWolf. Nané Lénard

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SchattenHaut & SchattenWolf - Nané Lénard

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      Der Weg hinunter zum Ufer war für ihn eine Herausforderung. Ohne Taschenlampe wäre er sicher gestürzt, hier war es stockfinster. Nur manchmal riss die Wolkendecke durch den starken Wind auf. Da brachte der Mond wenig Licht.

      Es war fast Neumond.

      „Hier bin ich“, raunte die sanfte Stimme nahe dem Flussufer.

      Der Mann stand tatsächlich im Wasser.

      „Kommen Sie raus, lassen Sie uns in Ruhe reden.“

      „Wir können auch so reden. Was möchten Sie mir denn sagen?“

      „Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie – egal was Ihnen passiert ist – immer wieder Freude am Leben finden können. Es wird auch wieder schöne Tage geben.“

      Ein Lachen durchriss den Sturm. Es war mehr ein Schreien, das nur langsam über dem Flussbett verhallte.

      „Das sind leere Worte, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie leer diese Worte sind – vor allem für mich. Alles Phrasen, alles Geplapper. Haben Sie nicht mehr zu bieten?“

      „Sie müssen mir erklären, was Ihnen geschehen ist. Ich möchte Ihnen so gerne helfen. Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, was passiert ist.“

      „Oh, das sollten Sie aber genau wissen, denn Sie sind dafür verantwortlich. Sie gehören zu den Menschen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Es war Ihre Entscheidung, Ihr Rat. Sie sind ein Teil des Gerichts gewesen, das über mich geurteilt hat. In diesem Moment haben Sie meine Seele zerstört und darum ist sie jetzt auch nicht mehr zu retten.“

      Der Fremde machte einen Schritt rückwärts und stand jetzt bis zu den Knien im Wasser.

      „So warten Sie doch! Bitte lassen Sie mich Ihnen helfen. Wie kann ich das Unrecht wiedergutmachen, das Ihnen geschehen ist. Was um Himmels willen habe ich denn getan ...?“

      Fraas dachte nach. Sicher hatte er in seiner Amtszeit Fehler gemacht. Und ganz bestimmt war sein Rat nicht immer der richtige gewesen. Aber er hatte stets in guter Absicht, im Sinne Gottes gehandelt. Das musste ihm der Fremde doch glauben.

      „... bitte sagen Sie mir, was damals passiert ist, ich möchte Ihnen wirklich helfen. Bitte!“

      „Dann müssen Sie zu mir kommen. Ich kann es nicht laut sagen. Es muss im Verborgenen bleiben. Niemand darf es wissen.“

      „Hier kann Sie doch niemand hören. Meinen Sie, dass ich zu Ihnen ins Wasser kommen soll? Hier ist doch niemand. Ich bin alt, meine Füße werden nass. Es ist schon so bitterkalt. Bitte nehmen Sie Rücksicht und kommen Sie ans Ufer.“

      „Auf keinen Fall. Wenn Sie nicht kommen, haben Sie auch noch den Rest meiner armseligen Seele auf dem Gewissen. Ich gehe jetzt weiter rein. Meine Unterschenkel spüre ich schon nicht mehr.“

      „Halt!“, rief Pfarrer Josef und setzte den ersten Fuß schaudernd in die Weser, „ich komme ja.“

      Das Gehen im Wasser fiel ihm schwer, sofort drang es in das warme Futter seiner Schuhe. Es war, als hätte er Blei an den Füßen. Als er den Mann erreichte, schaute er ihn direkt an.

      Er hatte keine Erinnerung an dieses Gesicht, er kannte ihn nicht. Seine Beine und Füße froren erbärmlich.

      „Drehen Sie sich zur Seite, damit ich Ihnen ins Ohr flüstern kann, was mich bedrückt“, bat der Mann.

      „Hier kann uns doch nun wirklich niemand hören“, sagte Fraas und neigte sich zu ihm.

      Als er nun hörte, was der Unbekannte in seine Ohrmuschel sprach, wusste er, dass es wirklich nur leise gesagt werden konnte. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen. Das hatte er alles nicht gewusst. Das waren damals andere Zeiten gewesen. Dafür konnte man ihn doch nicht verantwortlich machen. Und noch während er über das Gesagte nachdachte, das dem Mann angetan und jetzt ihm zur Last gelegt werden sollte, hörte das Denken einfach auf, er atmete nur noch, dann gaben seine Beine nach.

      Der Fremde fing den Pfarrer auf. Ja, niemand war schuld. Er war das Opfer, aber niemand trug die Schuld. Er schleifte den Bewusstlosen ans Ufer und legte ihn im Gras ab. Da er eine Anglerhose trug, war er vollkommen trocken geblieben.

      Jetzt lag er da, der Geistliche, der Seelenretter, der Seelsorger. Gottes Sprachrohr auf Erden. Es konnte nicht Gottes Wille gewesen sein, zu dem er damals geraten hatte. Das wäre doch ein Widerspruch in sich gewesen. Diese verlogene Ratte. Er war überfordert gewesen. Für ihn hatte es nur schwarz und weiß gegeben. Keine Graustufen. Das Denken war beschränkt, sein Rat tendierte zum kleineren Übel. Es war einfacher, ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu bauen.

      Dafür würde er jetzt büßen, würde dieselbe Erfahrung machen. Aber nur kurz, denn dann würde er ihn ersäufen, wie eine Ratte. Wie die Ratte, die er gewesen war.

      Der fast blutleere Körper versank in der Weser wie ein Stein. So ein Wintermantel konnte viele Kilo schwer werden. Da war Josef Fraas immer noch nicht tot. Aber er war viel zu schwach vor Kälte, vom Schmerz und von der Schmach, dass er den Weg zum Allerhöchsten dankbar annahm und ertrank.

       Wasserwanderung

      Der entseelte Pfarrer trieb langsam in Richtung Flussmitte, wo die Strömung am stärksten war. Sie nahm ihn gnädig auf und spielte mit ihm. Zog ihn unter Wasser in einen Strudel, spie ihn fünf Meter weiter wieder aus, drehte mit ihm eine Pirouette und ließ sein Haar wie im Wind flattern. Im Tod hatte er sich vor Schmerz zusammengekrümmt. Wie ein großer Embryo mit Mantel und Schuhen meisterte er die ersten beiden Weserkrümmungen vor Wehrbergen und glitt dann etwas gestreckter in nordwestlicher Richtung davon.

      Im Bogen bei Hessisch Oldendorf blieb Josef zunächst an einer alten Tonne hängen, die auf dem Wesergrund gestrandet war. Doch der Mantel zog ihn wieder in die Strömung zurück. Inzwischen hatten sich zwei Knöpfe aus den Löchern gelöst.

      Westwärts trieb das Wasser ihn jetzt, und die schmale Sichel des Mondes beleuchtete seinen Weg, vorbei an Fuhlen, Rumbeck und Großenwieden, wo die Weser erneut einen Haken schlug und mehrfach die Richtung änderte. Josef hatte seine Not mit den Windungen, denn dort blieb er leicht am Ufer in den Ästen hängen. Einmal sogar über eine Stunde, bis das Holz dem Gewicht nachgab und als Anhängsel mitschwamm. Der Ast war wohl auch der Grund, warum der Leichnam einige Flusskilometer weiter unterhalb des Weserangerbades in Rinteln strandete. Er bohrte sich in eine der Buchten in den sandigen Untergrund. Ein nächtliches Schiff spülte ihn mit seinen Heckwellen an Land.

      Und da lag er nun in der Morgendämmerung. Ein schwarzes Stück Strandgut, steif wie ein Baumstamm. Für eine Wasserleiche sah er gut aus. Dafür hatte die Kälte der Weser gesorgt. Nicht einmal die Fingerkuppen waren aufgequollen.

      Dass er trotzdem die Spaziergängerin erschreckte, hätte er selbst am wenigsten gewollt. Aber es war nicht zu ändern. Er war tot und genau das sah man ihm an. Martha Schulze stieß einen Schrei aus, zog ihren Dackel so schnell sie konnte in die entgegengesetzte Richtung. Durch den Schrei waren andere Passanten oben auf der Weserbrücke aufmerksam geworden. Als die Polizei gegen neun Uhr am Tatort eintraf, hatte sich dort bereits eine Menge Schaulustiger versammelt, die von der Brücke gafften. Polizeikommissar Wilfried Müller hatte auch von Ferne mit einem Blick erkannt, dass hier andere Kräfte angefordert werden mussten. Über Funk informierte er die Kripo in Nienburg und Rinteln. Er ließ das Gelände weiträumig, sowie die

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