Tatort Deutschland. Gisela Sachs
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»Ich denke, wir können Sie diese Woche noch entlassen, Frau Witte«, sagt der Chefarzt bei der Visite. Hiltrud Witte erschrickt. Die Tatsache, dass sie irgendwann einmal wieder nach Hause muss, hatte sie verdrängt, ihren Mann fast vergessen. Friedrich Witte hat nie angerufen in der Klinik, sie nie besucht, war zu sehr mit seinen kirchlichen Projekten zur Rettung der Welt beschäftigt.
Je näher der Tag der Entlassung rückt, wird Hiltrud Witte unruhiger. Sie hat keinen Appetit mehr, schläft schlecht, leidet unter Albträumen. Die seelisch und körperlich misshandelte Frau betäubt sich mit den Tabletten, die sie in ihrem Schrankteil versteckt hatte, ganz hinten im obersten Fach unter den weißen Frotteewaschlappen. Sie besorgt sich Schnaps bei einem Mitpatienten, den sie im Klinikflur kennengelernt hatte, erschafft sich wieder eine Traumwelt. Die Mahnungen ihrer Bettnachbarin Frida Lehmann schlägt sie in den Wind. »Lass mal, Frida, ich sterb’ ja sowieso.« Gegen diese Aussage ist Frida Lehmann machtlos. Sie deckt ihre neue Freundin in ihrer endlosen Traurigkeit, hat nichts gesehen.
Schlaflos wälzt sich Hiltrud Witte im Bett, sieht immer wieder auf die Ziffern des Weckers auf dem Krankenhausnachttisch. Sie kratzt sich am Kopf, an den Armen, an den Beinen, am Rücken. Ihre Haut brennt und kribbelt, so als würde sie in einem Ameisenhaufen liegen. Hiltrud Witte hat Bauchkrämpfe, Kopfschmerzen. Sie möchte sich am liebsten unter dem Kopfkissen verkriechen, nie wieder aufstehen müssen. Sie möchte nicht, dass der Morgen beginnt, will nicht nach Hause zu dem Mann, der keine Liebe in sich trägt, der sie jeden Sonntag benutzt wie eine aufblasbare Puppe. Hiltrud Witte holt die Schnapsflasche aus ihrem Schrankteil, trinkt in gierigen Zügen die Flasche mit dem Obstbrand leer. Sie will in ihre Traumwelt flüchten, in der sie sich nicht entscheiden muss. Anna, ihre Zweitälteste, wird sie in ein paar Stunden von der Klinik abholen.
»Zuckersüße Freude bereiten und gleichzeitig Gutes tun«, so preist Friedrich Witte seinen Honig bei den Weihnachtsfeiern in St. Anna, St. Martin, St. Andreas, der Diakonie, der Telefonfürsorge und dem Verein für Kinder in Not an. Er wird den Reinerlös zu 100 Prozent in seine Projekte stecken, gibt Friedrich Witte kund, schaut mit ernstem Blick in die Kameras der Pressefotografen. »Die Not in der Welt ist groß!«
Zeitgleich erscheinen Artikel über die Hilfsaktionen von Friedrich Witte in den drei regionalen Tageszeitungen von Mecklenburg-Vorpommern. Und der Absatz von Friedrich Wittes Rapshonig danach ist enorm.
Alle 5 Schweriner Rewe Filialen haben seinen Honig im Regal stehen.
Der Honiganbieter muss zukaufen, macht sich sofort daran, seinen Bestand zu vermehren. Und dann passiert eines Tages etwas sehr Außergewöhnliches. Nach einem Bienenstich schwillt die Nase des Imkers an, sein Körper rötet sich, er ringt nach Luft. Hiltrud Witte ist in der Küche mit dem Teig für die Waffeln beschäftigt, die es am Nachmittag im Jugendhaus geben soll.
»Hiiilfe.«
Hiltrud Witte runzelt die Stirn. Sie schaltet den Rührmixer aus.
»Hiiilfe.«
Hiltrud Witte eilt in den Flur, sieht in das geschwollene und mit Quaddeln übersäte Gesicht ihres Ehemanns. Friedrich Witte hält mit beiden Händen seinen Bauch, stöhnt. In seinen Augen steht die nackte Angst. Dann fällt er um wie ein gefällter Baum.
»Friedrich. Friedrich.«
Die Ehefrau kniet sich auf den Steinboden nieder, tätschelt die Wangen ihres Ehemannes, rüttelt ihn an der Schulter, zwickt in seinen Oberarm. Friedrich Witte bleibt stumm wie ein Fisch.
Hiltrud Witte legt ihren Kopf an seine Brust, lauscht seinem Atem, fühlt mit der Wange, ob es Luftbewegungen gibt. »Friedrich. Friedrich.«
Sie eilt in die Küche, hält ein Geschirrtuch unter das kalte fließende Wasser, legt es ihm auf die Stirn. Friedrich Witte bleibt leblos.
Sie entfernt die Zahnprothese aus dem Mund mit den bläulich-blassen Lippen. Macht Mund-zu-Mund-Beatmung.
»Friedrich. Friedrich.«
Hiltrud Witte fühlt den Puls ihres Mannes an der Halsschlagader, bringt ihn in die stabile Seitenlage und ruft den Notarzt an.
Eine Lache mit Urin hat sich um den Bewusstlosen gebildet. Der Duft von Kot erfüllt die Luft. Hiltrud Witte reißt die Fenster auf. Sie holt eine der Winterschlafdecken aus der Holztruhe im Schlafzimmer, deckt ihren Ehemann zu bis an die wächserne Nasenspitze.
Friedrich Witte wird mit dem Krankenwagen in die Klinik Amsee gebracht. Hiltrud Witte besucht ihren Mann dort täglich, wird von Frida Lehmann im Auto hingebracht.
»Sie hatten großes Glück, Herr Witte«, sagt der Chefarzt bei der Visite. »Sie sind dem Teufel gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.«
Friedrich Witte schweigt.
»Dank der schnellen Reaktion Ihrer Gattin, Herr Witte.«
Friedrich Witte schweigt.
»Sie hatten Ihren persönlichen Schutzengel im Haus,
Herr Witte. Ist Ihnen das eigentlich klar?«
Der Patient faltet seine Hände und starrt zur Zimmerdecke.
Der Arzt spricht eindringlich auf seinen Patienten ein.
»Sie sollten mit der Imkerei aufhören, Herr Witte!« Friedrich Witte schweigt. Er knetet seine Finger, bis die Knöchel weiß hervortreten.
»Der nächste Stich könnte für Sie tödlich sein, Herr Witte, das ist Ihnen doch klar?«
»Warum ausgerechnet ich«, stößt der Patient mit zusammen gepressten Lippen hervor.
»Wir könnten es mit einer Desensibilisierung versuchen, Herr Witte.«
»Ja«, flüstert Witte, dreht seinen Kopf zur Seite und weint.
Hiltrud Witte holt ihren Ehemann zusammen mit ihrer Freundin von der Klinik Amsee ab. Frida Lehmann steuert das Auto. Die führerscheinlose Hiltrud Witte hat den Beifahrersitz für ihren Mann freigemacht, sich auf die Rückbank des blauen Mazdas gesetzt. Sie werden zusammen essen gehen, in ein kleines, feines Restaurant in der Schweriner Altstadt. Friedrich Witte hatte es so gewollt. Und Hiltrud Witte hat einen Tisch für drei Personen in dem Restaurant »Küchenfee« reserviert, ein Festtagsessen bestellt: Geschmorte Kalbsbäckchen aus dem Kräutersud, Möhrchen, Röstzwiebeln, Himmel und Erde. Als Nachtisch wird es Erd-
beer-Sorbet geben, mit Prosecco aufgegossen. Es ist das Dankeschönessen für Frida Lehmanns Autofahrdienste.
Friedrich Witte bezahlt lächelnd die Rechnung. »Wir sollten ausgiebiger auf unsere Freundschaft anstoßen, liebe Frida. Ich schlage vor, wir trinken bei uns zu Hause noch ein Gläschen.« Friedrich Witte gibt sich als Charmeur. »Du hast doch sicherlich nichts dagegen, meine liebe Hiltrud, wenn ich zur Feier des Tages heute schon den besonderen Wein vom Weingut Rattey öffne? Eigentlich ist ja erst morgen unser Hochzeitstag, aber die besonderen Umstände...«
»Wein gibt es in jeder Kontogröße, liebe Frida«, sagt Friedrich Witte auf der Terrasse vom Haus am Hang. Er schenkt Frida Lehmann das Weinglas halb voll, danach das Glas seiner Ehefrau, dann seines. Er hält sein Glas hoch. »Auf uns drei!«
Frida Lehmann, keinen Alkohol gewohnt, verschluckt sich.