Geschichten aus dem Alltag. Susanne Wilting
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Auch die Auswahl des Kindergartens hat Daniela nur wenige Wochen später selbst in die Hand genommen. Obwohl gerade sie es sich während der Schwangerschaft ausgemalt hatte, wie schön es wäre, zusammen für ihr Kind einen geeigneten Kindergarten auszuwählen. Frank kann sich an diese Gespräche ganz genau erinnern. „Wir werden gemütlich auf unserem Sofa sitzen, bei Kaffee und Keksen und alle Info-Blätter durchsehen, die ich bekommen kann. Und natürlich recherchieren wir im Internet. Bis dahin nehme ich auch alle TV-Dokumentationen zu dem Thema auf, die sehen wir uns dann abends an und ich kann auch noch nach einer speziellen Elternzeitschrift suchen, vielleicht gibt's ja ein Sonderheft zu dem Thema? Was meinst du, Frank?“
„Ich find die Kekse super! Und übertreibst du nicht? Sollten wir uns nicht zuerst den Kindergarten hier im Viertel ansehen, vielleicht ist der ja schon okay?“ Erst im Rückblick bemerkt er, dass sie schon während dieser Gespräche aneinander vorbeigeredet haben. Und er fragt sich, während er langsam durch die Winterlandschaft fährt, zu langsam, denn der Kunde in Rosenheim hat sich schon zweimal telefonisch erkundigt, wann die Waren endlich ankommen, ob Daniela auch die Termine für die Vorsorgeuntersuchungen absichtlich in die Wochen seiner längeren Touren gelegt hat.
„Die Kinderärztin ist super beliebt. Und die Termine sind ganz schnell vergeben. Maja und ich schaffen das schon, sie macht die Tests mit links, ich bereite sie gut vor.“
„Du bereitest ein Kleinkind auf eine Vorsorgeuntersuchung vor? Spinnst du?“
Seit der Geburt der kleinen Maja scheint Daniela in einer Parallelwelt zu leben, ohne dass Frank es bisher realisiert hat. Das geht ihm erst hier in der weißen, weiten Schneelandschaft so richtig auf.
Daniela ist in Eile. Sie parkt das Auto im Halteverbot, nimmt Maja schnell aus dem Kindersitz und rennt mit ihrer Tochter auf dem Arm den bunt gepflasterten Weg hinauf zum Eingang des privaten Kindergartens „Bienenkorb“. Für Daniela ist das der Weg ins pädagogische Paradies.
„Tschüss, mein Schatz, bis heute Mittag. Ich wünsch dir viel Spaß. Mama holt dich wieder ab.“ Bis jetzt hat Maja kein Wort gesagt und antwortet auch nicht, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Die kleine Figur trottet traurig in ihren Gruppenraum.
Als Daniela sich umdreht und blitzschnell hinaushasten will, steht Frau Müller-Sorge, die Leiterin des Kindergartens, plötzlich neben ihr. Nur der Mund lächelt, die Augen blicken Daniela kühl und forschend an. Auf der Stelle fühlt Daniela sich unbehaglich.
„Guten Morgen, Frau Fischer, ich sehe, Sie sind in Eile. Haben Sie heute in der Mittagszeit ein paar Minuten Zeit für ein kurzes Gespräch?“
Das Lächeln der Kindergartenleiterin verstärkt sich, doch Daniela fühlt sich sofort verunsichert. Sie bleibt abrupt stehen.
„Natürlich habe ich Zeit, Frau Müller-Sorge. Gibt es Probleme mit Maja?“ Daniela wirkt angespannt, sie beobachtet Frau Müller-Sorge aufmerksam.
„Nein, nein, ich möchte Ihnen nur einige Fragen stellen.“
„Aber?“
„Halb so wild, Frau Fischer, darüber sprechen wir heute Mittag, Sie sind ja jetzt sicher schon spät dran. Auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen!“
Daniela verlässt eilig und niedergeschlagen den Kindergarten, viel zu schnell fährt sie Richtung Supermarkt. Sie überschlägt sich fast, um pünktlich an ihrer Kasse zu sitzen. Den ganzen Vormittag über muss sie sich zwingen, nicht mit den Gedanken abzuschweifen. Es hat soviel Energie und Geld gekostet, Maja diesen privaten Kindergartenplatz zu ermöglichen und bis heute weiß Daniela nicht, wie sie es Frank beibringen soll, dass ihr uraltes Sparbuch aus Kindertagen Monat für Monat erheblich für die hohen Beiträge schrumpft. Vor allem die Zusatzangebote belasten das Sparbuch, denn sie hat einfach alles, was der Kindergarten anbietet, für ihre Tochter dazugebucht. Und das ist teuer. Majas Vormittag im Kindergarten wird ergänzt von Englischunterricht, musikalische Früherziehung, begleitet von Blockflötenunterricht und von Rhythmikunterricht. Wenn Frank längere Touren fährt, meldet sie Maja für den ganzen Tag im Kindergarten an und bucht für sie nachmittags noch die Kreativgruppe, die auch extra berechnet wird. An diesen Tagen isst Maja mittags im Kindergarten, Bio-Vollwertkost, die die Erzieherinnen frisch zubereiten. Das bedeutet dann einen weiteren Posten auf Danielas Rechnung. Ganz zu schweigen von den Kosten für die Ausflüge, die die Kleinen schon unternehmen. Aber genau diese Form der frühkindlichen Förderung hat Daniela sich für ihr Kind erträumt.
Sie unterzieht Maja täglich nach dem Abholen einem eingehenden Verhör, um möglichst viele Einzelheiten über den Kindergartenalltag zu erfahren. Aber ihre Tochter wird immer verschlossener, zeigt ihr nur widerwillig die Ergebnisse der Bastelstunden und ihre Bilder, die Daniela sofort überschwänglich lobt. Sie hört selbst, wie falsch ihre Stimme klingt, wenn sie fassungslos die Kastanienmännchen ohne Arme oder die pechschwarzen Bilder betrachtet. Aber irgendwann muss doch dieser hohe pädagogische und finanzielle Aufwand Früchte tragen. Es muss einfach klappen, weil sie, die Mutter, es so will. In der Grundschule soll Maja eine Einser-Schülerin werden und anschließend das Gymnasium besuchen. Vielleicht möchte die Kindergartenleiterin ihr ja gerade heute weitere Fördermöglichkeiten anbieten? Das wäre toll, aber noch teurer. Überstunden sind unmöglich, sicher fällt ihr noch etwas ein, wie sie schnell regelmäßig Geld beschaffen kann. Vor der Kindergartenleiterin hat Daniela riesigen Respekt, nur will sie sich das auf keinen Fall anmerken lassen.
Als sie mittags wieder am Kindergarten ankommt, findet sie diesmal einen Parkplatz, bewusst ruhig betritt Daniela den Kindergarten. Als erstes schaut sie durch das Fenster in Majas Gruppenzimmer. Der Vormittag klingt mit einer Freispielzeit aus. Mit zwei anderen Kindern springt Maja ausgelassen auf einer dicken Matte auf und ab. So hat sie Maja seit Wochen nicht mehr gesehen. Daniela dreht um und geht aufrecht zum Büro der Leiterin, die sie schon erwartet. Nach der Begrüßung setzen sich die beiden Frauen zum Gespräch. Schon nach wenigen Augenblicken bemerkt Daniela, dass hier etwas völlig falsch läuft.
„Frau Fischer, alles in Ordnung? Geht es Ihnen nicht gut?“
„Doch, doch, alles gut! Ich frage mich nur, ob ich das gerade richtig verstanden habe? Wir sprechen doch über Maja?“
„Aber natürlich sprechen wir über Maja. Frau Fischer, Majas Gruppenleiterin, hat mir erzählt, welche Pläne Sie in nächster Zeit mit Maja haben. Deshalb haben wir Maja regelmäßig Bilder und Basteleien mit nach Hause gegeben, damit Sie einen Eindruck von dem Entwicklungsverlauf Ihrer Tochter bekommen. Wir vermuten, dass alles zusammen einfach viel zu viel Förderung für Maja darstellt. Wir sind der Meinung, dass Maja wesentlich mehr Zeit braucht, die pädagogischen Angebote zu verarbeiten. Sie blüht im freien Spiel auf. Ich vermute, das haben Sie gerade auch beobachtet. Frau Fischer, ich lade Sie herzlich ein, hospitieren Sie mal einen Vormittag bei uns und Sie werden mich verstehen. An einem solchen Vormittag kann ich Ihnen auch in Ruhe Einzelheiten erklären. Jetzt kann ich nur sagen, Sie verlangen zu schnell Ergebnisse von Maja.“
„Hospitieren?“
„Ja, verbringen Sie einen Vormittag als Gast in der Gruppe Ihrer Tochter. Das hat sich wirklich bewährt.“