Vom Verlust der Freiheit. Raymond Unger
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Oder wäre eine totalitäre Regierung nach chinesischem Muster nicht eine weitaus bessere Lösung?
Allem voran sind Jungend und unablässige Aktivität recht brauchbare Schutzmechanismen gegen die Bewusstwerdung der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Lebens. Doch je älter man wird, desto näher kommen auch die existenziellen Schrecken. Geliebte Menschen sind bereits gestorben. Man hat eine oder mehrere schmerzhafte Trennungen hinter sich bringen müssen. Man wurde mit einer lebensbedrohenden, medizinischen Diagnose konfrontiert … Der Mensch ist das einzige, bewusste Lebewesen, das in die Zeit gestellt wurde, anders gesagt: Der Mensch muss täglich sein Leben gestalten, obgleich er weiß, dass er sterben muss. Wen dies kalt lässt, oder wer angesichts seines eigenen Todes zynisch reagiert, hat schlichtweg nicht begriffen, was dies bedeutet. Man könnte auch sagen, hier ist ein menschlicher Reifegrad noch nicht erreicht.
Wer aber das Schicksal des Menschseins im Angesicht des Todes begriffen hat, versteht auch den Ur-Schmerz, der nach Antwort verlangt. Bei allen schicksalhaften Erfahrungen stellt sich die Frage nach der persönlichen Resilienz. Relativ gefeit gegen die Schrecken der Unverfügbarkeit sind Menschen, welche die Erfahrungen von Liebe, Halt und Geborgenheit machen konnten. Die frühe Gewissheit, gewollt und geliebt zu werden, legt den alles entscheidenden Grundstein für den Blick auf die Welt. Urvertrauen in das Sein wurde einem entweder in den ersten Lebensjahren geschenkt – oder man ist zu einer lebenslangen Kompensation einer tiefen Verunsicherung gezwungen. Unbehandelt bildet letzteres Schicksal eine ungesunde Melange von Infantilität und Kontrollzwang aus – die Ingredienzien sozialistischer Ideologie.
Nur bei genügend Urvertrauen und Liebe kann sich ein gesundes Ich mit einer gesunden Identität herausbilden, das sich später, als Ich-Erweiterung, auch in einem kollektiven Zugehörigkeitsgefühl spiegelt. Die gelungene Menschwerdung und ein wirkliches Erwachsenwerden bedeuten Liebes- und Bindungsfähigkeit, wobei echte Liebe und Bindung niemals beliebig sein können. Vorrausetzung für freie Beziehungen ist eine gesunde Eigenliebe, dazu wiederum gehört Abgrenzungsvermögen, Unterscheidungsvermögen von mein und dein, eigen und fremd. Erst wenn diese Fähigkeiten ausgebildet sind, man also weiß, was man möchte und was nicht und wo man selbst aufhört und der andere anfängt, können Beziehungen gelingen. Alles andere sind abhängige Beziehungen oder taktische Manöver, weil man etwas braucht oder haben will. Etwas provokant ausgedrückt könnte man sagen, ein beziehungs- und liebesfähiger Mensch muss zunächst einmal lernen zu diskriminieren:
»Der Begriff Diskrimination (von lateinisch discriminare = ›trennen‹, ›absondern‹, ›unterscheiden‹) beschreibt die Unterscheidung, den Unterschied oder das Unterscheidungszeichen. Die Diskriminationsfähigkeit ist dementsprechend die Fähigkeit zur Unterscheidung.« 41
In seinem Artikel »Warum Diskriminierung unvermeidlich ist« untersucht der Wirtschaftsphilosoph Prof. Gerd Habermann die Notwendigkeit der Diskriminierung. Zunächst betont Habermann, wie wichtig das Diskriminierungsverbot im Kontext der Gesetzgebung ist. Niemand darf vor dem Gesetz bevorzugt oder benachteiligt werden:
»Ein folgenreicher Fehlgriff ist es nun, dieses Unterscheidungsverbot auf das Privatrecht anzuwenden. Für das Privatleben ist das Unterscheidungsrecht konstitutiv. Es ist der Kern der Vertrags- und Meinungsfreiheit. Ich darf nicht nur, ich muss täglich ›diskriminieren‹, indem ich nach meinen nicht weiter hinterfragbaren Präferenzen mit bestimmten, ausgewählten Menschen zusammenarbeite (im Arbeitsrecht), Handel treibe, bestimmte Produkte kaufe, mich bestimmten Meinungsrichtungen, Parteien, Religionen oder politischen Gemeinschaften anschließe, einen Verein mit einem exklusiven Spezialzweck gründe, eine bestimmte Person – besonders exkludierend – heirate oder mich mit ihr innig befreunde. Fast jede Wahlhandlung ist in diesem Sinne ›diskriminierend‹ oder ›exkludierend‹ und unterscheidet logischerweise zwischen denen, die dazugehören und anderen, die nicht dazugehören. So schließt ein Kaninchenzüchterverein satzungsmäßig Schweinezüchter aus: Es ist offenbar sinnlos, den speziellen Zweck des Vereins offenzuhalten.« 42
Sozialistische Bestrebungen zur »Antidiskriminierung« in den privaten Raum hinein haben jedoch nichts Geringeres zum Ziel, als die Verhinderung von Wahlfreiheit, Individuation und Identität. Die Aufzählung der Bedingungsstrukturen gesunder Individuen lässt bereits erahnen, wo die zentralen Angriffspunkte sozialistischer Ideologie liegen. Liebesfähige Menschen, die gelernt haben zu unterscheiden, was sie wollen und was nicht, wünschen sich für ihre Beziehungen, die naturgemäß andere ausschließen, Kontinuität. Obgleich in der Praxis vielfach gescheitert und allem Gender-Nudging zum Trotz, sind die Ideale Monogamie und Treue zwischen Frau und Mann immer noch Kassenschlager in Filmen und Romanen. 99 Prozent aller Menschen fühlen sich klar einem Geschlecht zugeordnet. Vermutlich 95 Prozent aller Menschen, und nicht wie immer wieder behauptet 90 Prozent, sind heterosexuell. Die verbindliche Ehe, als Grundlage der Gesellschaft, hat keineswegs ausgedient. Spätestens wenn aus dieser Verbindung Kinder hervorgehen, entsteht bei Eltern ein starkes Schutzbedürfnis. Der Wunsch nach Eigentum, Besitz und damit Sicherheit sind folgerichtige Ziele, um die eigene Familie zu schützen. Bindungsfähige, erwachsen gewordene Menschen orientieren und definieren sich also natürlicherweise über sozial gewachsene Strukturen wie Ehe, Familie, Eigentum, Beruf, Kollegen, Freunde und Individualität. Sämtliche dieser Identifizierungen stellen Ich-Erweiterungen dar und geben dem Menschen Halt, Sicherheit und Geborgenheit. Für eine lange Zeit, oft bis über die Lebensmitte hinaus, reichen diese sozial verlässlichen Bindungen aus, um die elementaren Unverfügbarkeiten, Trennung, Krankheit, Tod, erfolgreich zu kompensieren. Doch nach den Psychologen und Philosophen, wie Abraham Maslow oder C. G. Jung, müssen schlussendlich weitere Elemente hinzukommen, um die großen Sinnfragen des Lebens zu befrieden, nämlich Religion, Kunst und Kultur.
Nicht zufälligerweise sind alle eben genannten bürgerlichen Strukturen kardinale sozialistische Angriffspunkte. Sämtliche Bindungs- und Identitätsstrukturen wie Ehe, Familie, Eigentum, Individualität, Religion, Kunst und Kultur werden seitens sozialistischer Ideologie dekonstruiert. Etwas salopp könnte man auch sagen, diese Institutionen werden insbesondere von jenen dekonstruiert, die sie nicht haben können: narzisstische, verunsicherte, bindungsschwache Persönlichkeiten, denen obige Trauben zu sauer sind. Doch der Angriff auf alle Bindungsstrukturen geschieht heutzutage nicht mehr offen und direkt, sondern überaus geschickt und mithilfe der sozialistischen Trojaner Gender, Migration und Klima – und neuerdings Pandemie-Abwehr. Kulturmarxisten haben dazugelernt, der Kampf mit offenem Visier ist vorbei, inzwischen ist man nicht mehr rot, sondern grün. Die zeitgenössischen sozialistischen Projekte heißen »Fridays for Future«, »Seebrücke« und »Extinction Rebellion« und »Wir bleiben zuhause«. Und nur Unmenschen werden gegen derartig humanitäre Aktionen etwas einzuwenden haben …
Kulturmarxismus
Kulturmarxistische Ansätze werden heutzutage nicht mehr von der Arbeiterschaft getragen, sondern von Intellektuellen. Die unweigerliche, stetige Verarmung der Arbeiterschaft, wie sie Karl Marx prognostiziert hatte, trat einfach nicht ein. Mehr noch, der böse Kapitalismus hatte dafür gesorgt, dass sich der Wohlstand der Arbeiter mehrte; daraufhin sprangen viele dem Sozialismus von der Stange. Kräfte, die eine zeitgenössische Gesellschaft dennoch im sozialistischen Sinne umgestalten möchten, müssen folglich neue Narrative schaffen. Dadurch entsteht zunächst der Eindruck, es handele sich überhaupt nicht um Marxismus, obwohl die Kernziele dieselben bleiben:
»Vom Marxismus alter Schule unterscheidet sich der Neomarxismus durch die Wahl der Mittel, nicht in den Zielsetzungen. Wie von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest im Jahre 1848 ausgeführt, besteht das Ziel der kommunistischen Bewegung darin, das Privateigentum abzuschaffen und mit den überlieferten Ideen und Eigentumsverhältnissen radikal zu brechen. Es gilt, die Nationalität ebenso abzuschaffen wie die Familie und die Religion. Ziel ist es, der Privatwirtschaft alles Kapital zu entreißen, die Produktionsmittel