Big Ideas. Das Ökologie-Buch. John Farndon
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Die Räuber-Beute-Gleichungen sind ein frühes Beispiel für die Anwendung von Mathematik in der Biologie. Die zwei Gleichungen, die der US-Amerikaner Alfred J. Lotka und der Italiener Vito Volterra in den 1920er-Jahren formulierten und die auch Lotka-Volterra-Gleichungen heißen, beschreiben, wie die Populationen einer Räuberart und einer Beuteart sich relativ zueinander entwickeln.
Lotka stellte die Gleichungen 1910 auf, um die Reaktionsrate von autokatalytischen chemischen Reaktionen (chemische Prozesse, die sich selbst regulieren) zu verstehen. Im folgenden Jahrzehnt wendete er sie auf die Populationsdynamik von Wildtieren an.
1926 kam Vito Volterra zum gleichen Schluss. Sein Interesse an dem Thema war nach einem Treffen mit dem italienischen Meeresbiologen Umberto D’Ancona geweckt. D’Ancona erzählte Volterra, dass die Fischer an der Adria im Ersten Weltkrieg einen erheblich höheren Anteil an Raubfischen gefangen hatten. Dies hatte offenbar damit zu tun, dass im Krieg weniger gefischt wurde. D’Ancona war aber nicht klar, warum dadurch nicht mehr Fische aller Arten vorhanden waren. Mit denselben Gleichungen wie Lotka konnte Volterra schließlich die Veränderungen sowohl bei den Räuber- als auch den Beutearten erklären.
Ein Gepard verfolgt eine Thomson-Gazelle. Die Räuber-Beute-Gleichungen modellieren, wie sich die Populationszahlen der beiden Arten durch die Aktivitäten der jeweils anderen ändern.
Populationsprinzipien
Als Lotka und Volterra ihre Berechnungen anstellten, steckte die Wissenschaft der Populationsdynamik noch in den Kinderschuhen; sie hatte sich seit den Studien des britischen Ökonomen Thomas Malthus im späten 18. Jahrhundert kaum entwickelt. Nach Malthus nimmt eine Population sehr schnell zu oder ab, solange die Umweltbedingungen für das Überleben konstant sind. Die Wachstumsrate wird umso höher, je größer die Population ist. Mit dieser Theorie sagte Malthus eine katastrophale Zukunft für die Menschheit voraus. Die Zahl der Menschen würde viel schneller wachsen als die Menge an Lebensmitteln, die auf der Welt produziert werden können. Letztlich, so Malthus, käme ein Punkt, an dem die Weltbevölkerung wegen einer globalen Hungersnot schrumpfen würde.
Malthus’ dunkle Vision trat dank technischer Fortschritte in der Landwirtschaft, etwa der Entwicklung von Kunstdünger, nicht ein, sein Bevölkerungsmodell ließ sich aber auch auf Populationen von Arten in Ökosystemen anwenden. Jeder Lebensraum und jede Nische, die eine Art in der Artgemeinschaft einnimmt, haben ihre Tragfähigkeit: eine maximale Population, die bei den vorhandenen Ressourcen wie Wasser, Platz, Nahrung und Licht überleben kann. Wächst die Population darüber hinaus, wird sie gewöhnlich durch natürliche Faktoren wieder reduziert. Daher sollten Populationen in der Wildnis ziemlich konstant bleiben und nur um die Tragfähigkeit herum fluktuieren, wobei zufällig auftretende Naturkatastrophen außen vor bleiben.
Doch dieser Gleichgewichtszustand war nicht das, was man stets beobachtete – wie in D’Anconas Bericht, nach dem es plötzlich viel mehr Raubfische gab. Eine Theorie zur Erklärung dieses Phänomens geht davon aus, dass die Anzahl der Räuber von der Größe ihrer Nahrungsquelle abhängt, also von der Population der Beute. Wenn viel Nahrung verfügbar ist, müsste demnach die Räuberpopulation groß sein. Steigt die Zahl der Räuber, sollte sich die Zahl der Beutetiere verringern; dies würde dann wiederum die Zahl der Räuber reduzieren. Die Größe beider Populationen würde zu- und abnehmen, aber das Verhältnis von Räubern zu Beute sollte stabil bleiben
»Die Beuteart kann daher von der Räuberart nicht ausgerottet werden unter den Voraussetzungen, auf die sich unsere Gleichungen beziehen.«
Alfred J. Lotka Elements of Physical Biology, 1925
»Mathematik ohne Naturgeschichte ist leblos, aber Naturgeschichte ohne Mathematik ist verworren.«
John Maynard Smith Britischer Mathematiker und Evolutionsforscher Did Darwin get it right? Essays on Sex, Games, and Evolution, 1988
Diese Gleichgewichtstheorie passte jedoch ebenfalls nicht zu den Beobachtungen. Durch mathematische Modellierung konnte Volterra zeigen, dass die Größen der Räuber- und Beutepopulationen tatsächlich schwanken. Dabei ändert sich die Rate, mit der eine Population wächst oder schrumpft, ständig und stimmt praktisch nie mit der Änderungsrate der anderen Population überein. Um die Gleichungen zu vereinfachen und Variablen zu beseitigen, traf Volterra einige Annahmen. Erstens gibt es für beide Arten bei der Vermehrung keine Obergrenze, die Wachstumsrate jeder Population ist proportional zu ihrer Größe. Zweitens findet die Beutepopulation – man nimmt Pflanzenfresser an – stets genug Nahrung. Drittens ist die Beutepopulation die einzige Nahrungsquelle der Räuber, die Räuber sind nie satt und hören deshalb nie mit der Jagd auf. Volterra ging zudem davon aus, dass externe Umweltbedingungen wie das Wetter oder Naturkatastrophen keine Rolle spielen. Auch die Auswirkungen genetischer Veränderungen sind im Modell nicht berücksichtigt.
Stellt man die Ergebnisse der Modellierung grafisch dar (unten), folgen Ab- und Zunahme der Räuber jeweils den Veränderungen der Beutepopulation. Die Räuber werden immer noch mehr, wenn die Beute schon weniger wird. Dies erklärt die Beobachtungen von D’Ancona, dass der Anteil an Raubfischen zunahm, nachdem sich die Beutefische durch weniger Fischerei drastisch vermehrt hatten.
Die relativen Veränderungen der Populationen hängen von dem Verhältnis der Reproduktionsraten der beiden Arten sowie von der Prädationsrate (der Rate, mit der Räuber Beute fangen) ab. So sind etwa die Schwankungen bei Ameisen und Ameisenbären kaum bemerkbar, weil sie sich so unterschiedlich schnell vermehren. Bei Arten mit ähnlichen Fortpflanzungsraten, etwa Luchs und Kaninchen, sind die Schwankungen ausgeprägter.
Rüstungswettlauf
Die Räuber-Beute-Gleichungen zeigen, dass Arten gemeinsam einem niemals endenden Ringen unterliegen, das zwischen der fast völligen Auslöschung und dem Überfluss pendelt. Bei diesem biologischen »Rüstungswettlauf« unterliegt die Beute dem Evolutionsdruck, den Räubern zu entkommen, um mehr Nachkommen zu haben. Gleichzeitig unterliegen die Räuber dem Druck, mehr zu jagen, um mehr Nachkommen ernähren zu können. Doch keine der beiden Arten ist überlegen, beide reagieren auf die Anpassungen der anderen. Die Räuber-Beute-Beziehung zwischen Paarhufern (wie Antilopen oder Rehwild) und Raubtieren (wie Großkatzen oder Wölfe) zeigen diesen evolutionären Rüstungswettlauf. Paarhufer haben stark verlängerte Beine, da sie auf den Spitzen der verdickten, verschmolzenen Zehen laufen. Durch diese Anpassung können sie laufend und springend entkommen. Als Antwort haben Großkatzen wie Löwen und Tiger die Schnelligkeit und Stärke entwickelt, um große, schnellfüßige Beute bei Überraschungsangriffen zu schlagen. Wölfe haben die Ausdauer entwickelt, lange Strecken ohne Pausen zurückzulegen. So können sie in Gruppen ihre Beute verfolgen, bis sie erschöpft zusammenbricht und getötet wird.
Populationszyklen bei Räuber-Beute-Systemen
Die Populationen von Räuber und Beute nehmen in regelmäßigen Zyklen ab und zu. Zwar variieren deren Ausprägungen, sie folgen aber stets einem ähnlichen Muster.
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